Das ist existentielles Theater, das mit den ersten fulminanten Einwürfen des Beethoven Orchesters Bonn unter Hermes Helfrichts Leitung einsetzt, von Paukenschlägen voran geprügelt. Ein pentatonisches Tonmotiv taucht wie verfolgt auf, und verschwindet ebenso schnell wieder im Klang-Strudel. Der schwarze Theatervorhang hebt sich dazu ganz langsam! So, als sollte das Geheimnis dahinter mit jedem Schlag nur in Kleinstdosen und mühsam preisgegeben werden.
Eine gigantomane Anwaltskanzlei im Bauhausstil ist der Ort, wo in drei Akten um Aufklärung gekämpft wird. Das Einheitsbühnenbild von Charles Edwards besteht aus hohen Decken. Links, hinten kahle Wände, rechts eine Glasfront mit Türen, darüber Fenster, alles rechteckig oder quadratisch summiert, und durch schlanke gold-schimmernde Metallverläufe unterteilt. Während hell sonnenartiges Licht hineinfällt, sodass die in dieser Glasfront untergebrachte Uhr erst einmal übersehen wird, haut ein Fernorchester hinter der Bühne dunkle Blechsalven nach vorne. Hier pulsiert eine merkwürdige Zeit! In einem seit 100 Jahren schwelenden Prozess, in dem vor allem Männer um ein Erbe ringen, und eine Frau das Sagen hat.
Die unsterblich schöne Femme fatale hat ihren großen Auftritt
Die Opernsängerin Emilia Marty taucht laut Opernvorwurf im Jahr 1922 plötzlich auf. Eines Lebenselexiers wegen geistert sie als unsterblich schöne Femme fatale und Opernsängerin durch die (Männer-)Geschichte, mit unterschiedlichen Namen aber immer an den Initialen E. M. zu erkennen. Als Eliane Makropulos wurde sie bereits im 16. Jahrhundert geboren. Die Wirkung des Elexiers lässt gerade nach. Daher sucht sie nach der Rezeptur. Und die ist im Haus des ersten Erblassers in diesem Prozess, dem reichen Joseph Ferdinand Prus zu finden. Das weiß nur sie. Denn sie hat als Ellian McGregor – niemand anderes als Eliane Makropulos – mit ihm das uneheliche Kind gezeugt, das des Erbes verlustig ging, weil es eine Nebenlinie der Prus an sich gerissen hat.
Aktuell sind also der Nachfahre des Enterbten, Albert Gregor, und der Nachfahre in der Prus-Nebenlinie, Jaroslav Prus, die Prozessgegner. Und da steht plötzlich diese selbstbewusste Frau im großen Hut und Fuchsfellkragen da, die weiß, wo das Testament zu finden ist. Spätestens nach diesem Auftritt ist klar, dass die Erbgeschichte Nebensache, die Hauptsache aber die Reaktionen der Charaktere zueinander und auf das geheimnisvolle Weibliche das entscheidende Movens sind.
Der Sopranistin Yannick-Muriel Noah ist die Rolle der Emilia Marty wie auf den Leib geschnitten
„Die Sache Makropulos“ ist wohl vor allem dieser Frauenrolle wegen am Bonner Theater gelandet. Der Sopranistin Yannick-Muriel Noah, seit 2013 im Ensemble, scheint die Rolle der Emilia Marty jedenfalls wie auf den Leib geschnitten zu sein. Zwei Stunden steht sie im Fokus, fordert, vermittelt, verhandelt und besticht die Männer – und füllt mit stimmlich dramatischer Verve diese große Frauenrolle aus. Tenor Thomas Piffka, der um das verlorene Erbe seines Vorfahren kämpfende Albert Gregor, verliebt sich sofort in die Geheimnisvolle, die ihm Aufschluss über die eigene Vergangenheit geben könnte, und überschlägt sich mit hohem dramatischen Einsatz dabei auch schon einmal. Bariton Ivan Krutikov verteidigt als Jaroslav Prus das sich angeeignete Erbe einmal sogar von der Kanzlerloge aus, die es in Bonn rechts oben gibt, rückt aber das gesuchte Elexir-Dokument sofort gegen einen Liebesdienst heraus, der ihn allerdings nicht befriedigt!
Denn E. M. kann sich auch von der kalten Seite zeigen. Jaroslav Prus‘ Sohn Janek wiederum, in der relativ kleinen Rolle überzeugt Tenor David Lee, ist eigentlich der Freund der Tochter des Anwaltsgehilfen, verliebt sich aber auch in die Femme fatale und bringt sich um. Johannes Mertes als Hauk-Schendorf – laut Janáček eine „Operettentenorrolle!“ – ist durch die Liebe mit einer gewissen Eugene Montez wahnsinnig geworden, zieht depressiv einen Stuhl vor einem geschlossenen roten Vorhang von rechts nach links oder taucht in der im Blumenmeer versinkenden Kanzlei auf, um – wie alle Männer – noch einmal Avancen bei der aktuellen E. M. zu versuchen.
Der erst 27-jährige Erste Kapellmeister Hermes Helfricht wird seiner großen Aufgabe wunderbar gerecht
Das alles spielt sich in Dialogen mit teilweise schnellen Wechseln ab. Und es gibt sogar komische slapstickartige Momente. Die Oper basiert ja auf der Komödie von Karel Čapek. Gesangsensembles gibt es keine. Dafür liefert Janáček die oftmals virulente Orchesterfläche, die von besonderen kammermusikalischen und für Janáček typisch folkloristischen oder sentimentalen Momenten mit quietschenden Klarinetten oder Solovioline aufgebrochen wird. Das Orchester ist der Zusammenhalt und liefert die tragische Grundierung, an die die Gesangsebene als völlig selbständige Ebene andockt. Dieser wichtigen Aufgabe wird das Bonner Beethovenorchester unter dem erst 27jährigen Ersten Kapellmeister Hermes Helfricht durch eine straffe, dichte und dennoch transparente Gestaltung absolut gerecht. Vielleicht war es die Anstrengung des Abends, die Helfricht beim Schlussapplaus auf der Bühne fast in den Orchestergraben stolpern ließ!
Trotz Vorbehalten im Vorfeld: Christopher Alden plastische Regie überzeugt
Der Regie von Christopher Alden gingen ja Vorbehalte voraus, wie das bei Übernahmen von Inszenierungen sein kann, wenn sie im ersten Anlauf zurückhaltend besprochen dann ans nächste Haus kommen. Doch die Aufführung 2006 an der English National Opera in London liegt wahrlich schon lange zurück. In Bonn hat Aldens plastische Darstellung der miteinander agierenden Figuren überzeugt, die bei jeder neuen Faktenlage in neue Wallungen geraten. Gleich zu Anfang regnet es DIN-A4-Blätter von der Decke, die das Personal von Rechtsanwalt Dr. Kolenatý (Bassbariton Martin Tzonev) aufsammelt, um sie auf einem massiven Schreibtisch, unter dem ein Bombenattentat überlebt werden könnte, zu Stapeln zu ordnen. Die Kostüme hat Sue Willmington im juristischen Anzugsgrau der 20er Jahre gehalten. Und wie die Liebesszene zeigt, tragen die Männer auch noch Strumpfhalter.
Die Männerwelt ist dieser starken Frau nicht gewachsen
Es fügt sich alles zu einer stimmigen Kafkaesken Szenerie, wie man sie sich im Wien der 20er Jahre bestens vorstellen kann. Ob Richter, Gehilfe, Prozessgegner … diese Männerwelt ist jener starken Frau allerdings nicht gewachsen. Immer wieder blicken Männer durch die Glasfront von draußen auf die Frau in Aktion. Oder kommen hinein und applaudieren im Blumenmeer in Slow Motion! Am Ende, wenn E. M. ihre unheimliche Existenz aufklärt, gibt es dann doch noch einen großen Monolog. Sie gesteht ihre wahre Liebe zu „Pepi Prus“, dem Erblasser dieser Geschichte. Und da gehen sogar die Streicher einmal mit ihrer Gesangsmelodie colla parte und spielen große romantische Oper.
Eine offenen Frage stellt sie noch in den Raum: „Wie kann ein Mensch 300 Jahre unter Menschen leben?“ – will sagen, wie konnte sie das aushalten? Ist sie im Endeffekt auch eine Gescheiterte? Im großen Schlussapplaus im Bonner Theater – für eine großartige Sängerleistung und auch für das Regieteam löst sich alles in Wohlgefallen auf. Ganz klar ein Erfolg für Bonn und „Die Sache Makropulos“!
Theater Bonn
Janáček: Die Sache Makropoulos
Hermes Helfricht (Leitung), Christopher Alden (Regie), Charles Edwards (Bühne), Sue Willmington (Kostüme), Adam Silverman (Licht), Yannick-Muriel Noah, Ivan Krutikov, David Lee, Thomas Piffka, Johannes Mertes, Martin Tzonev, Christian Georg Kathrin Leidig, Susanne Blattert, Miljan Milovic, Anjara Bartz, Beethoven Orchester Bonn