Für Lebenshungrige aller Art gilt das Paris der Zwanzigerjahre mit seinem prallen kulturellen Leben vielleicht heute noch als wunderbarer Traum: Im unumstrittenen Zentrum verschiedenster Künste und ihrer Evolution in die Moderne lebten, arbeiteten und trafen sich alle Berühmtheiten aus Literatur, Malerei, Tanz und Musik. Hier, im Schmelztiegel der Salons und Cabarets, emanzipierte sich das befreite Nachkriegsfrankreich mit so viel kreativer Energie wie nie zuvor – und wohl auch später nie wieder. Wer etwas auf sich hielt (und es sich leisten konnte), trat hier in die Bohème ein.
Dazu gehörte auch der 1890 geborene Tscheche Bohuslav Martinů, der 1923 dank eines Stipendiums aus der böhmischen Provinz nach Paris aufgebrochen war, um seine Kompositionsstudien bei Albert Roussell zu vollenden. Aus dem Schmelztiegel vielfältigster musikalischer Einflüsse zwischen Strawinsky und Weill, Tonfilm und Operette, Tango und Jazz sog er die Einflüsse für seinen ganz eigenen Stil, den man auch in seinen viel später entstandenen Sinfonien immer wieder erkennt. Dabei vergaß Martinů aber nie seine Heimat und verwob das böhmische Idiom mit der Moderne, ohne verkopft-theoretischen Musikkonzepten zu folgen, und wurde so später in den Olymp der heimischen Musikwelt aufgenommen, ohne je in die Heimat zurückzukehren.
Krude Handlung zwischen Groteske, Fabel und surrealistischem Kino
Seine dritte Oper mit dem etwas sperrigen Titel „Die drei Wünsche oder Die Launen des Lebens“ entstand 1928 in enger Zusammenarbeit mit dem Librettisten Georges Ribemont-Dessaignes, der den Dadaismus mitbegründet und sich später den Surrealisten zugewandt hatte. Ganz in diesem Geiste ist das erst 1971 uraufgeführte Stück zu sehen, dessen sich nun auch die Oper Chemnitz angenommen hat: In der Rahmenhandlung eines Filmsets, in der Lesart von Regisseurin Rahel Thiel in ein Theater verlegt, erkennen die Protagonisten in den gespielten Sehnsüchten nach und nach ihre eigenen Wünsche. Im Mittelpunkt der ziemlich kruden Handlung zwischen Groteske, Fabel und surrealistischem Kino steht die Fee Null, die von Monsieur Juste gefangen wird und ihre Freiheit durch die Gewährung von drei Wünschen erkauft.
Wie in besonders pädagogischen Märchen fallen diese dann recht erbärmlich aus: Reichtum, Jugend und Liebe sollen Glück verheißen, und folgerichtig sorgt die rachsüchtige Fee dafür, dass dank der menschlichen Unzulänglichkeiten und Charakterschwächen das ganze Gegenteil eintritt. Wie im „Sommernachtstraum“ lieben die Richtigen immer die Falschen, und die Gier nach dem Goldenen Kalb endet buchstäblich im Schiffbruch.
Geld und Jugend machen doch nicht glücklich
Man kann die absurde Geschichte auch als Porträt einer zeitgenössischen Gesellschaft im Verfall lesen, die sich in all ihrer Saturiertheit eigentlicher humaner Werte nur noch fahl erinnern kann. Geld und Jugend machen eben nicht glücklich; die Tragik besteht darin, dass den Menschen all das eigentlich bekannt ist, sie aber nicht aus ihren eingeübten Verhaltensmustern und schlichten Bedürfnissen herausfinden. So banal das auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mag, erwächst aus der recht belanglosen Botschaft doch durch die Genauigkeit des musikalischen Porträts einer pur-kapitalistischen Welt in Endzeitstimmung durchaus erzählerische Größe. Zwischenmenschliches und allzu Zwischenmenschliches wird nur noch in sinnentleerten Sprechblasen verhandelt, und daraus entsteht manches Mal auch etwas Tragikomisches.
Vor allem Bohuslav Martinů selbst gebührt die Ehre, den schrillen Tanz auf dem Vulkan, der in weitere Katastrophen münden wird, erkannt und in eine höchst facettenreiche Sprache übersetzt zu haben. Seine Musik erzählt eigentlich schon alles: das schwurbelnd verspielte Sehnen und Wähnen einer dem Untergang geweihten Epoche. Regisseurin Rahel Thiel findet dafür eindrückliche, schlichte Bilder, die mit wenigen Requisiten – etwa einem Grammophon, dessen Trichter zum Megaphon umfunktioniert werden kann – in einer Halbwelt zwischen Fiktion und Realität das Traumwandlerische ihrer Protagonisten zeigen.
Panorama höchst aktueller gesellschaftlicher Zustände
Den riesigen szenischen Aufwand, der zur Entstehungszeit die Uraufführung der Oper unmöglich machte, treibt sie gar nicht erst. Ihrem Bühnenbildner Fabian Wendler reicht für die Umsetzung der spektakulären Schauplätze zwischen Filmstudio, Hochseedampfer und einsamer Insel ein lichtumkränzter Schminktisch, dessen Gestalt sich in Spotlight-Wänden wie bei einer Revue wiederfindet. Schlichte Scheinwerfer werden zum Sinnbild für aufleuchtende und wieder verblassende Wünsche, zeigen sie auch mal in Schriftform oder dienen als Projektionsfläche für einen zwischenspiellangen Film, in dem Monsieur Juste im Keller des Theaters nach dem Lebenssinn sucht (Videoproduktion: Stefan Bischoff). Zusammen mit den stimmigen Kostümen Rebekka Dornhege Reyes‘ ergibt die Szenerie ein groteskes, eindrucksvolles Panorama höchst aktueller gesellschaftlicher Zustände – und zwar ganz von allein, ohne den Holzhammer zu bemühen.
Zwischen Tanzmusik, Jazz und Bitonalität
Natürlich spielt der Regie die illustrative Musik in die Hände, die ganz vom Orchester getragen wird, gar nicht so sehr von den teils etwas undankbaren Solistenrollen. Beim Ersten Kapellmeister Jakob Brenner – der GMD-Posten ist seit Ende der letzten Saison unbesetzt – stößt die zwischen Tanzmusik, Jazz und Bitonalität changierende Partitur auf rasende Begeisterung. Der Mann am Pult kennt sich aus mit den Zwanzigern und Martinůs frühem Jazz-Crossover, sammelt alte Original-Arrangements, leitet selbst ein Salonorchester und arrangiert auch fleißig dafür. Im Graben will er dem Stück unbedingt zu seinem Recht verhelfen, versucht jedes Detail gewahr zu machen – was allerdings ein wenig den Blick aufs ganze Theatergeschehen verstellt. Damit geht Tempo verloren – und in dieser Musik ist gutes Timing fast das Wichtigste.
Vielleicht liegt es aber auch an der Robert-Schumann-Philharmonie, die nicht so richtig Feuer fängt; man merkt dem eigentlich stupenden Hausorchester an: Diese Musik ist ihm nicht auf den Leib geschneidert. Martinů muss noch mehr glühen, kontrastreicher blitzen, lustvoller sein. Eigentlich fehlt es den Chemnitzern an nichts – außer an Liebe für dieses schlecht fassbare Genre, und damit bleibt das Orchester trotz seiner fraglos technisch perfekten Bewältigung seiner Partie etwas farblos.
Großes Kino des jungen Ensembles!
Dafür überzeugt die Ensembleleistung mehr als zufriedenstellend – fast alle Soli sind mit jungen hauseigenen Kräften besetzt, und sie lassen sich durchaus auf ihre ungewohnten Partien und die unbekannte Art des Musizierens ein. Thomas Essl als Monsieur Juste überzeugt über seine stimmlichen Qualitäten hinaus vor allem mit ausgereiftem Schauspiel, das Opernsängern nicht immer gegeben ist. Auch die größeren Frauenrollen werden von Maraike Schröter und Marlen Bieber stimmfrisch in Szene gesetzt, während es Counter Etienne Walch als Fee noch etwas an Durchschlagskraft fehlt. Der Opernchor, aus dessen Reihen mehrere kleine Soli besetzt sind, wirkt szenisch wie musikalisch so routiniert, als würde er jeden Abend Jazzkonzerte und Revueauftritte geben: großes Kino!
Was aber vor allem beeindruckt: Wenn man bedenkt, wie allerorts die Spielpläne aus wirtschaftlichen Gründen auf übliche Kassenhits zusammengeschmort werden, sind die Ambitionen des Chemnitzer Theaters, ein so unbekanntes Stück aus der Versenkung zu holen, aller Ehren wert. Angesichts von mehr als einem Dutzend weiterer Opern Martinůs bleibt natürlich die Frage, ob man nun ausgerechnet diese ausgraben muss. Klar wird aber einmal mehr: Diesem Herrn gebührt allgemein eine weit umfassendere Aufmerksamkeit.
Theater Chemnitz
Martinů: Die drei Wünsche oder Die Launen des Lebens
Jakob Brenner (Leitung), Rahel Thiel (Regie), Fabian Wendling (Bühne), Rebekka Dornhege Reyes (Kostüme), Stefan Bischoff (Video), Stefan Bilz (Chor), Johannes Frohnsdorf (Dramaturgie), Thomas Essl, Maraike Schröter, Daniel Pataky, Marlen Bieber, Etienne Walch, Paula Meisinger, Sofia Pavone, David Sitka, Gyung Ha Choi, Mu Gon Kim, Jörg Kersten, Matthias Repovs, David Sitka, Thomas Kiechle, Jakob Ewert, Felix Rohleder, Opernchor der Theater Chemnitz, Robert-Schumann-Philharmonie