Durch aktive Produktionsgeschwindigkeit zeichnet sich das Theater Chemnitz aus, seit es als theatrale Standortbestimmung gegen die Chemnitzer Ausschreitungen im November 2018 Udo Zimmermanns „Weiße Rose“ als Premiere außer Plan herausbrachte. Vergleichbar spontan kam es zur Inszenierung und digitalen Uraufführung des Zweipersonen-Musiktheaters „Isolation Club“ im Club Transit/Kulturbahnhof Chemnitz. Das Textbuch des Beitrags zur „Initiative Neustart Kultur – Neue Stücke für ein großes Publikum“ des Deutschen Literaturfonds ist auf der Website nachlesbar.
Florian Staneks Minidrama entrollt in 53 Minuten das frustrierte Lebensgefühl in den gefühlten Ewigkeiten der Hausarreste 2020 und 2021. Der starke Eindruck haftet, selbst wenn die Blessuren des Lockdown-Winters in der Frühsommer-Euphorie momentan etwas in Vergessenheit geraten. „Isolation Club“ ist weder Hotel Mama noch „Hotel California“, und die Frage nach der Verhältnismäßigkeit von „Sex, Lügen und Video“ stellt sich schon lange nicht mehr. Den „Isolation Club“ bilden zwei in ihren Wohnzellen von der Pandemie eingemauerte junge Menschen mit explosiver Sehnsucht nach physischen Kontakten, überprüfbaren Informationen und emotionaler Nähe. Also den meist begehrten Mangelwaren in den digitalen Großversprechungen für die Konsumgeneration Lieferdienst.
Die Einsamkeit zwischen Laptop und Kühlschrank
Ein Platz in den Theaterchroniken ist Florian Staneks dualistischem Handlungskonstrukt und Sebastian Brandmeirs an Operettenschmus, Hermann Hesse, Bach und Schubert inspirierten Klängen gewiss sicher: „Isolation Club“ reiht sich bestens ein in die Linie musikalischer Beziehungslehrstücke wie Telemanns „Pimpinone“, Wolf-Ferraris „Susannens Geheimnis“ oder Harvey Schmidts „I Do!I Do!“. Aus diesen musikalischen Komödien lernt man bekanntermaßen viel über die Strapazen des Glücks, der Sympathie-Krisen und Startschwierigkeiten sowie das Gender-Fluidum früherer Zeiten.
In Sachen Partnerschaftsanbahnung schaut es im Corona-Winter 2020/21 trotz politisch korrekter Permissivität schlechter aus als im 20. Jahrhundert. Jetzt wird jede Abweichung vom eigenen Meinungsschwerpunkt zum digitalen Pulverfass und Schlussstrich gutgemeinter Bemühungen. Alle Clubs und Discotheken mit von Alltagsverletzungen reinigenden Kollektivwirkungen auf Körper- und Selbsterfahrungen sind dicht. Demzufolge wächst der Single-Frust in den eigenen vier Wänden ohne nicht-digitale Kontakte ins Gigantische.
Next door im Global Village
Die Influencerin Hannah pumpt für 400.000 Follower flockig euphemistische Durchhalteparolen durch die Glasfaserkabel. Next door im Global Village lebt der auch in der inhaltlichen Opposition sportliche Paul mit seinem Laptop als Tor zur Welt. Ihm gehen die Trost-Marshmellows von Hannah & Co. auf die mentalen Eier und greifen ihm trotzdem ans Gemüt. Aber er fühlt sich in einem alternativen Bürgerforum besser aufgehoben. Pauls skeptischer, nicht einmal böswilliger Comment in Hannahs Youtube-Channel wirkt dialogfördernd. WhatsApps fliegen, ein Skype-Meeting wird nicht nur erwogen, sondern tatsächlich durchgeführt: Aber den Kristallisationspunkt, in dem aus „Einsam + Einsam = Paar“ werden könnte, bemerken Hannah und Paul zu spät. Leider! Das ist nicht der einzige Moment, in welchem das Produktionsteam der subtilen Performance „Isolation Club“ mit Erwartungshaltungen des Publikums spielt und dieses mit kunstvoller Sparflamme bei Laune hält.
Auf der Suche nach Begegnungsmöglichkeiten und -mustern der physischen Steinzeit vor Corona begegnen sich Hannah und Paul – oder deren sinnlich abgekoppelte Avatare – im Club Transit. Natürlich berühren sie sich nicht. Aber beide ersehnen das Gemeinschaftserlebnis der in die physischen Eingeweide wummernden Beats und physisch-psychischen Vibrationen. Am Ende sind sie sich ferner als vor dem ersten Dialog. Was bleibt, ist nur die Sehnsucht nach Vereinigung und nach der Glückswelle von Gemeinschaftsgefühl. Willkommen im „Isolation Club“.
Spiele mit der physischen Vormoderne
Marlen Bieber und Felix Rohleder, Studierende und Mitglieder des Chemnitzer Opernstudios, haben den sanften Puls der seelischen Stoffwechselermüdungen gut drauf, das Kreuz mit der digitalen Völlerei auch. Ohne große Augen und Gesten zeigen sie die Leere und die durch überhöhte Klickzahlen verursachten Brechreize. Die Kameraführung ist geradlinig wie die aus den Skizzenbüchern von Schubert und Bernstein inspirierte Nummernfolge, die musikalische Leitung Jeffrey Goldbergs für die sanften Streicher-Chills auch. Diese illustrieren das Wunschdenken der im Lockdown gefesselten Königskinder, die es durch das Meer des digitalen Rauschens nicht zueinander schaffen.
Olaf Bender von Raster Media kennt die Rock-, Pop- und Independent-Stile der Nachwendezeit, aber auch das akustische Ersterben der letzten Beats kurz vor Zapfenstreich der After-Partys. Mit diesem Wissen mixt und dreht er auf. Er generiert Klänge wie unter der leichten Staubschicht auf einem nachgedunkelten Gemälde im Goldrahmen, das Unwiederbringliches zeigt und mit dem Alter an Wert gewinnt. Stück und Umsetzung haben durch die ästhetische Verweigerung hochauflösender Bildtänze und digitaler Optimierung beeindruckende Stärke: Die Polarisierung von Hannahs und Pauls Gesinnungen bildet scharfe Kontraste trotz halbgarer Dialoge und Chat-Protokolle, degeneriert aber nie zum Klischee. Claudia Weinhart lässt sich für die Wohnzellen von Hannah, der ihr Job offenbar nur wenige echt edle Markenprodukte einbringt, und des seine Sportaccessoires daheim tragenden Paul nicht zu gestapelten Pizzakartons herab.
Florian Stanek vermeidet Schlagworthülsen
Für Hannah und Paul liefern die Mixes aus roten, schwarzen, grünen, blauen, gelben und orangenen Welterklärungen keine verlässliche Basis. Ihr Zellendasein verhindert Kommunikation, der Kampf gegen die digitale Surrogate erhitzt und lähmt. Am schönsten ist, wie Veit-Jacob Walter mit seinen beiden Darstellern eine spielerische und so medial fast aus der Zeit gefallene Natürlichkeit entwickelt. Die Arbeit an satt-dunkler Farbigkeit, die Sprödigkeit des musikalischen Zitat-Geschehens und die Patina erhöht der leise kräuselnde Zigarettenrauch. Sogar die quälende Sehnsucht nach intensiver Berührung bringt die frühere Ausgelassenheit momentan nicht zurück. „Isolation Club“ ist ein Abgesang, und es wird spannend, wie sich diese Atmosphäre bei den geplanten Live-Vorstellungen in der Kulturhauptstadt 2025 anfühlen wird.
Theater Chemnitz im Club Transit Chemnitz
Florian Stanek und Sebastian Brandmeir: Isolation Club (UA). Eine Kammeroper mit Beats für Mezzosopran und Bassbariton
Jeffrey Goldberg (Leitung), Veit-Jacob Walter (Regie),Claudia Weinhart (Bühne & Kostüme), Olaf Bender (DJ & Musikalischer Supervisor), Marlen Bieber (Hannah), Felix Rohleder (Paul), Jeffrey Goldberg (Klavier), Ovidiu Simbotin (Violine), Jörg Scholz (Kontrabass)
Weitere Onlinetermine: 14., 17. & 19. Juni 2021. Der Stream ist kostenfrei oder gegen Spende jeweils 19 Uhr für 24 Stunden abrufbar.
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