Spätestens nach der Vervollständigung seines Nibelungenrings vor noch nicht einmal zwei Jahren galt Chemnitz, seit einiger Zeit schon als „Bayreuth des Nordens“ Pilgerstätte für Wagnerianer von sehr weit her, als „Opernwunder“. Daran galt es sich nun, da „Lohengrin“ auf dem Premierenzettel stand, zu messen. Die rätselmärchenhaft anmutende Geschichte um den göttlichen Ritter, der die unter Mordverdacht stehende Elsa von Brabant errettet, aber von der durch machtlüsterne Intriganten aufgestachelten Edeldame verraten wird, gehört mit ihrem großdeutschen Vokabular, dem legendären Schwanenkitsch und dem rasselnden Schwertgeklingel musikdramatisch gesehen nicht gerade zu den Höhepunkten des Repertoires. Aber die Musik! Wieder steht nach dem sensationellen „Ring“ der Generalmusikdirektor am Pult, und erneut stellt Guillermo García Calvo mit seiner Robert-Schumann-Philharmonie unter Beweis, dass Wagner auch an einem kleineren Haus funktioniert. Und auf welch bemerkenswerte Weise!
GMD Guillermo García Calvo bebt, wütet, zärtelt, schwelgt
Wie der Spanier bebt, wütet, zärtelt, schwelgt – und bei allem ungeduldigen Brodeln nie die Akkuratesse aus dem Blick verliert, jede kleinste Andeutung, jedes Rubato, jeden Ausbruch und jedes Versiegen auf feinste Weise aus der Partitur meißelt, nötigt größten Respekt vor den Chemnitzern ab. Wagners letzte „große romantische Oper“ vor den weihevollen Höhepunkten seines Schaffens verlangt von Chor, Sängern und vor allem dem Orchester ja strengste Präzision, um genau die Wirkungen zu entfalten, für die „Lohengrin“ so geliebt wird.
Die Robert-Schumann-Philharmonie und die Solisten folgen dem Maestro bedingungslos
Gerade die beeindruckendsten Stellen, vornehmlich in den Vor- und Zwischenspielen, verlangen den Musikern alles ab – das lässt sich mit routinierter Perfektion nicht abbilden. Und genau hier fängt Palvos Arbeit erst an: Mag es auch einige wenige und verschmerzbare Wackler geben, der Affekt ist stets genau kalkuliert, der Dirigent lässt nie unkontrolliert auftrumpfen oder lustvoll, aber sinnentleert zudecken, sondern spannt weite Bögen und betont interessante, oft überspielte Bezüge. Und nicht nur seine Philharmoniker, sondern auch das solistische Personal folgt ihm nahezu bedingungslos. Lediglich der Opernchor, bei den stellenweise achtfach geteilten Herren nicht immer homogen verstärkt vom Extrachor, lässt bei seinen großen Aufgaben hin und wieder intonatorische Mängel erkennen, die schade sind, aber die musikalische Gesamtwirkung nicht wesentlich beeinträchtigen.
Einheit von sanglicher Differenzierung und schauspielerischen Details
Die Großartigkeit der Aufführung speist sich vor allem aus der Einheit von sanglicher Differenzierung und schauspielerischen Details. Wie Martin Bárta etwa als Telramund seine Figur nicht einseitig als waffenstarren Ehrenrambo anlegt, sondern ihm auch die zweifelnden, zuweilen gar weinerlichen Züge stimmlich und gestisch abringt, spricht für eine hervorragende psychologische Ausdeutung der Personnage. Ihm steht seine Gemahlin Ortrud, von Stéphanie Müller ganz wunderbar in Szene gesetzt, in nichts nach, sie weiß aus ihrer Figur gar mehr herauszuholen, als es von Wagner intendiert war, der sie nur „für ein fürchterliches Weib“ hielt. Auch die angeblich so reine Elsa gibt Cornelia Ptassek nicht als bloße Lichtgestalt, sondern als entrückte Frau, die zu ihrem Selbstbewusstsein und den wachsenden Zweifeln nach und nach findet und daran vergeht. Selbst der eher statischen Figur wie dem Heerrufer des Königs (Andreas Beinhauer) gönnt Regisseur Joan Anton Rechi einen differenzierten Charakter und dichtet ihm sogar ernsthafte Gefühle für Elsa an. Mirko Roschkowski singt die Titelpartie mit beglückender Strahlkraft und nuancierter Darstellung eines scheiternden, verzweifelten Helden.
Mülltonnen und zerbrochene Achterbahnen
Diese exakte Personenführung in Symbiose mit der musikalischen Gestaltung ist es denn auch, was das Publikum zum Schluss begeistert von den Sitzen reißt. Allerdings zerfällt die Erzählstruktur in die genaue Charakterisierung der Hauptpersonen einerseits und die statisch anmutende Verortung in einer depressiven Gesellschaft andererseits, für die Sebastian Ellrich einen verfallenen Freizeitpark gebaut hat, den Mülltonnen und zerbrochene Achterbahnen skizzieren. Die göttliche Fügung teilt sich als fahler Schein der letzten funktionsfähigen Straßenlaterne mit, und tröstende Hoffnung verheißt Lohengrins Ankunft nur kurz mit den wiederaufleuchtenden Buchstaben des verblichenen Wunderlands. Zwischen verrottendem Unrat erscheint der angegraute Plastikschwan als letztes Vehikel des einst vergnügungssüchtigen Volks, das sich nichts sehnlicher wünscht als einen Führer, ohne sich der eigenen Freiheit bewusst zu sein oder diese auszufüllen. Das lässt durchaus aktuelle Assoziationen zu, gerade in Chemnitz, aber die guten Gedanken werden nicht weiter auserzählt. Das macht einen merkwürdig unfertigen Eindruck für ein Publikum, das überdeutliche Interpretationen gewöhnt sein mag, aber eigentlich gar nicht schlimm ist. Denn trotz mancher Unstimmigkeiten gelingt mit dem Chemnitzer „Lohengrin“ eine Produktion, deren musikalische und darstellerische Qualität über alle Zweifel erhaben ist.
Theater Chemnitz
Wagner: Lohengrin
Guillermo García Calvo (Leitung), Joan Anton Rechi (Regie), Sebastian Ellrich (Bühne), Mercè Paloma (Kostüme), Stefan Bilz (Chor), Carla Neppl (Chor), Magnus Piontek, Mirko Roschkowski, Cornelia Ptassek, Martin Bárta, Stéphanie Müther, Andreas Beinhauer, Robert-Schumann-Philharmonie