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Opern-Kritik: Theater Chemnitz – Louise

Labor einer Familienhölle

(Chemnitz, 8.2.2025) Ein stellenweise berauschender Premierenabend mit vielen unerfüllbaren Träumen: Regisseurin Rahel Thiel entdeckt in der Titelfigur von Charpentier viel mehr Selbstbestimmung als gewöhnlich, Dirigent Maximilian Otto reizt mit der Robert-Schumann-Philharmonie die kantig brillanten Konturen der Komposition voll aus.

vonRoland H. Dippel,

Gustave Charpentier sicherte sich für sein an der Pariser Opéra-comique anno 1900 uraufgeführtes Meisterwerk die alleinige Autorschaft am Textbuch, indem er dessen Rechte seinem Mitarbeiter Saint-Pol-Roux für 11.000 Franken abgekauft hatte: Keine Oper neben „Rigoletto“ zeigt die Konsequenzen aus dem obsessiven Verhalten von Helikoptereltern drastischer als „Louise“. Keine Oper verherrlicht die Lichterstadt Paris in lyrischen und massiven Genreszenen liebevoller. Und kaum eine Oper bietet einen derart realitätsnahen Blick auf untere Schichten.

Die Neuproduktion des „musikalischen Romans“ des Theater Chemnitz richtet einen sezierenden Blick auf die Geschichte der Arbeitertochter Louise, welche sich ihres miefigen Elternhauses erwehrt, sich dessen Druck entzieht und sich dann der phantasierten Liebe zum erwerbsschwachen Poeten Julien, zum Bohème-Volk auf dem Montmatre und zur Lichterstadt Paris ausliefert.

Glasklare Diagnostik

Die durchkomponierte Partitur Charpentiers treibt den mit Bizets „Carmen“ 1875 begonnenen Realismus-Kick noch weiter, weicht trotz gesuchter Analogien und rauschhafter Orchesterwirkungen dem „Wagnerismus“ geschickt aus, nimmt stellenweise sogar Janáčeks Sprachmelodik sowie ungedeckte Blechbläser-Sätze vorweg. Und sie setzt auf mahlerhafte Spaltwirkungen.

Der gebürtige Chemnitzer Maximilian Otto reizte mit der Robert-Schumann-Philharmonie in der offenen Akustik des Opernhauses die kantig brillanten Konturen dieser um 1900 eigenwillig dastehenden Komposition aus. Er befeuert mit Nachdruck und bleibt doch minimal kühl. Dabei bevorzugte er das strahlende Licht der Blechbläser mehr als die ebenfalls in der Musik steckende Streicherdämmern. So passte sein Dirigat auch zur glasklaren Diagnostik der Figuren durch die Regisseurin Rahel Thiel.

Szenenbild aus „Louise“
Szenenbild aus „Louise“

Familienhölle

Bei ihr schreibt seltener Julien als Louise selbst an einer schweren Schreibmaschine. Die Familienhölle ist in einem penibel sauberen, fast leeren Raum verortet. Alles blitzblank und dahinter sinnlich lockendes Schwarz. Details verraten viel, sei es eine impulsiv unbeherrschte Ohrfeige der Mutter oder der traurig wirkende, pomadisierte Scheitel des Vaters. Louise trommelt selbsttherapierend ihre Probleme auf‘s Papier und kommt dabei auf fatale Zusammenhänge. Zwischen dem fürsorglichen Klammergriff der Eltern und Julien ist der Unterschied nur gering.

Als Louise dann den Spieß umdreht und – übrigens sehr genau an Charpentiers Textbuch präzisiert – aus eigenem Antrieb den Geschlechtsakt fordert, spielt ihr die Psyche einen Streich, und auch das geht schief. Musikalische Apotheose und Beklemmung explodieren zeitgleich. Danach könnte man den sanften Vorwurfsjammer des Vaters im Schlussbild – berückend sensibel gesungen von Thomas Essl – fast für balsamischen Seelentrost halten. Paula Meisinger gibt die Mutter als eine blondgestählte Frau, die seelische Wunden hinter gepanzerter Robustheit und kerngesunder Stimme verbirgt.

Szenenbild aus „Louise“
Szenenbild aus „Louise“

Idealer Montmatre-Poet

Möglicherweise kam die von Felicity Lott bis Renée Fleming begehrte Paradepartie der Louise für die sehr hell timbrierte Sopranistin Elisabeth Dopheide etwas zu früh. Im von Maximilian Otto klar fokussierten, nicht immer auf Sänger und akzentuierende Dringlichkeiten des Textes eingehenden Orchesterton fällt ihr die Zielgerade ins hymnische

Leuchtfeuer der zum Galastück gewordenen Arie „Depuis le jour“ schwer. Weitaus besser gelingt Dopheide die deklamatorisch akzentuierte Melodik in den ersten Akten. Daniel Pataky singt den Julien emotional, auch klug und kommt einem Ideal der auf dem Anspruchsniveau von Massenets „Werther“ angesiedelten Partie beseligend nahe. Ein weiterer konsequenter Schnitt Thiels ist die Distanz der vielen kleinen Stimmen von Paris, welche das Chemnitzer Musiktheater-Ensemble überaus präsent gestaltet, zu Julien. Bei Charpentier wird Louises Liebe zu Julien mit ihrer Sehnsucht nach dem freien Leben in der Stadt zum Synonym. Hier nicht.

Szenenbild aus „Louise“
Szenenbild aus „Louise“

Träume vom Glück

Die Bühne von Volker Thiele und die Kostüme von Rebekka Dornhege Reyes haben trotz des Prospekts mit einer der Straße hinauf zur Basilika Sacré-Cœur eine von Sinnlichkeit weit entfernte Strenge. Die Bohèmiens mit ihren Kindern formieren sich wie zu einer offiziellen Jubelstatisterie. Für die einzige große Chorszene wurden zahlenstarke, intensiv singende Personalgeschütze mit Opern- und Kinderchor aufgefahren. Insgesamt also ein stellenweise berauschender Premierenabend mit mehr Kanten als Parfüm, mehr Analyse als wahrer Liebe und vielen unerfüllbaren Träumen vom Glück. Im Vergleich zu den letzten Inszenierungen von John Dew in Dortmund und Christof Loy an der Deutschen Oper am Rhein zeigt Louise bei Thiel viel mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, wenn auch nur in Seelenprotokollen und Tagträumen.

Altersloses Meisterwerk

Utopisches Moment in dieser Arbeit sind drei exponierte Nebenrollen, die von einer Gruppe elegant gekleideter Frauen eskortiert sind: Thomas Kiechle als hier wie in den meisten „Louise“-Vorstellungen etwas prominenter besetzter Nachtschwärmer und Narrenkönig, Felix Rohleder als Lumpensammler und Vaterstimme, und Etienne Walch als androgyne Traumfigur, die eher bei Jean Cocteau als bei Émile Zola anzutreffen wäre. Das Publikum war begeistert von dieser alterslosen Oper, die jetzt weitaus moderner wirkt als andere explizit um Fortschritt bemühte Kompositionen der Entstehungszeit.

Theater Chemnitz
Charpentier: Louise

Maximilian Otto (Leitung), Rahel Thiel (Regie), Volker Thiele (Bühne), Rebekka Dornhege Reyes (Kostüme),Konrad Schöbel (Chor), Johannes Frohnsdorf (Dramaturgie), Elisabeth Dopheide, Daniel Pataky, Thomas Essl, Paula Meisinger, Thomas Kiechle, Felix Rohleder, Marlen Bieber, Akiho Tsujii / Anna Magdalena Rauer, Domenica Radlmaier, Etienne Walch, Kurumi Sueyoshi, Xinmeng Liu, Judith Wurm, Kathrin Herrmann, Katharina Kunze / Paula Kühnrich, Ervin Ahmeti, Tommaso Randazzo, András Adamik, Jonathan Koch, Jean-Baptiste Mouret, Daniel Pastewski, Opernchor des Theater Chemnitz, Kinder- und Jugendchor des Theater Chemnitz, Robert-Schumann-Philharmonie






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