Obwohl von Pierre Boulez als „letzte Triebhauspflanze der Spätromantik“ bezeichnet, begann mit der „Wozzeck-Uraufführung am 14. Dezember 1925 in der Berliner Lindenoper ein neues Kapitel der Operngeschichte. Eine derart expressive und die damaligen Hörgewohnheiten des Publikums fordernde Musik hatte es im Musiktheater – trotz Strauss‘ „Elektra“ (1909) – noch nicht gegeben. In Chemnitz war das Werk zum letzten Mal 1932 zu erleben. Jetzt setzte GMD Guillermo García Calvo die paradigmatische Literaturoper nach dem Dramenfragment Georg Büchners zu seinem Abschied auf den Spielplan. Eine große musikalische Leistung und eine bedenkenswerte szenische Lesart.
Soziale Verarmung
„Wir arme Leut‘!“ Für den Arzt Büchner und auch den Komponisten Berg war das Sujet eine Fallstudie aus der Perspektive der Gebildeten auf die Sphäre des sich im 19. Jahrhundert rasant vermehrenden Proletariats. Wozzeck ist zerrissen zwischen mehreren Jobs, zu denen auch der des Probanden fragwürdiger Ernährungsexperimente gehört. Dadurch entfremdet er sich seiner Partnerin und deren kleinem Sohn. So die Transformation der Verhältnisse aus dem frühen 19. ins frühe 21. Jahrhundert.
Balázs Kovalik und sein Ausstatter Sebastian Ellrich haben das Stück jetzt in die junge Gegenwart weitergedacht. Also sind es nicht mehr die sonst oft als Karikaturen dargestellten Figuren von Doktor und Hauptmann, die Wozzeck malträtieren. Wozzeck leidet dagegen an der Desorientierung in einer entfremdeten Gemeinschaft mit nicht mehr verständlichen Arbeitsprozessen, bestens funktionierender Sozialkontrolle und permissiven Freizeitnischen. Maries Schlafzimmer schmückt eine Fototapete mit tropischem Strand als Sehnsuchtsparadies für unbefriedigte Zeitgenossen.
Weißgrauer Musteralltag
Vor einer kleinen Bühne mit vom schicken Büro zum Golfplatz und Freizeit-Ausschweifungen wechselnden Alltagsszenarien sind die Soli, die kräftig geforderte Musiktheater-Statisterie und der Opernchor gleichermaßen Tätige, Beobachtende und Kontrollierende eines funktional-dysfunktionalen Musteralltags. Akademische Spitzen treffen sich mit der mittleren Betriebsebene zum Golfen. Es gibt keine Natur und keinen blutroten Mond. Maries Knabe (Corvin Kriesel) ist schon ziemlich groß, spielt mit Playmobil-Figuren mehrerlei Geschlechts und kickt nach Entdeckung der Leiche seiner Mutter deren letzte mit dem Golfschläger weg. Da ist die Inszenierung schließlich doch ganz nah an Büchners aufwühlendem Text und deren reportageartiger Kürze. Da wird auch deutlich, wie es aussieht mit der real praktizierten Würde des Menschen.
Wozzeck wirkt nicht verrückt und nicht arm, sondern „nur“ hilflos. Das System flutscht, allerdings ohne menschliche Nähe. Sehnsüchte brechen sich Bahn trotz junger Moraldiktatur, die sich als Beobachtung aller durch alle zeigt. Die von Berg den Kinderstimmen zugeteilten Schlussworte übernehmen Chorsolistinnen – und in der zum Show-Beitrag umgemünzten Szene der Handwerksburschen erobert ein Korsar eine Meerfee en travestie. Alles Essenzielle der „Wozzeck“-Handlung wird angerissen und doch die Phantasie des Publikums in Bewegung gehalten.
Literaturoper mit Kammermusik
Damit versöhnt keine üppige musikalische Durchdringung. Guillermo García Calvo und die Robert-Schumann-Philharmonie nehmen sich in den vielen Spaltungen in Streichereinheiten und Bläsersoli derart zurück, dass man „Wozzeck“ für hochkonzentrierte und fast immer in unteren Dynamikbereichen gespielte Kammermusik halten muss. Dann zeigt Calvo desto mehr laute Energie und opulente Kraft für die jetzt nur wenigen Aufschwünge.
Eine besondere bis außergewöhnliche Besetzung hat das Theater Chemnitz zusammen. Timo Rößner als Andres wirkte etwas blass, wie seine Position im Bürobetrieb. Hauptmann und Doktor sind durch das fast heldische Tenor-Material von Michael Pflumm und den edlen Bass von Alexander Kiechle ernstzunehmende Figuren, denen das Destruktive und alles Wozzeck Erniedrigende weniger autoritär als unbedacht von den Gutverdiener-Lippen geht. Sie bewegen sich so aalglatt durch ihre Nischen wie Sophia Maeno als bemerkenswert smarte und attraktive Margret. Reto Raphael Rosin gibt einen zum bulligen „Rockstar“ mutierten Tambourmajor. Von der Mitleidsfigur eines Sozialdramas wird Thomas Essl in der Titelpartie zur Musterfigur eines Lebensmodells von gegenwärtig Hunderttausenden.
Demzufolge ist Essl hier kein vokal auffälliger Heldenbariton, sondern zeigt einen eher prosaischen und Bergs Noten äußerst genau nehmenden Wozzeck. Mehr ist er im flach-nüchternen Piano als in den großen Expressionen verortet: Wozzeck Jedermann wird nicht einmal im Moment des Mords und seinem Verschwinden zum Star. Im Gegensatz zu Marie. Sie zeigt eine fast inzestuöse Nähe zu ihrem Sohn, beginnt ihren erotischen Verzweiflungslauf aus der schmerzlich erlebten Beziehungsödnis beherzt und trotzdem schuldbewusst. Cornelia Ptassek setzt einen klar fokussierten, hellen Sopran, der Maries Schrei nach Leben, aber auch ihre Angst und Klagen kräftig wie sinnlich beglaubigt. Aus dem wegen sommerlicher Hitze nur halb gefüllten Parkett gab es lautstarken Beifall.
Theater Chemnitz
Berg: Wozzeck
Guillermo García Calvo (Leitung), Balázs Kovalik (Regie), Sebastian Ellrich (Bühne und Kostüme), Stefan Bilz (Chor), Carla Neppl (Dramaturgie), Thomas Essl, Reto Raphael Rosin, Timo Rößner, Michael Pflumm, Alexander Kiechle, Felix Rohleder, Jurica Jurasić Kapun, Cornelia Ptassek, Sophia Maeno, Karl Felix Kramny, Corvin Kriese, Inkyu Park, Opernchor der Theater Chemnitz, Robert-Schumann-Philharmonie