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Opern-Kritik: Theater Dortmund – Einstein on the Beach

Drogentrip mit Philip Glass

(Dortmund, 23.4.2017) Regisseur Kay Voges wagt die Emanzipation von Robert Wilsons Uraufführungsinszenierung – und triumphiert

vonAndreas Falentin,

„Einstein on the Beach“, 1976 uraufgeführt, ist Philip Glass‘ erste Oper. Das vierstündige Werk entstand aus der Idee, eine eigenständige nordamerikanische Musiktheaterästhetik zu finden, in Opposition zu spätromantischen und seriellen Kompositionsmodellen und modernem Regietheater, das sich zeitgleich mit Patrice Chéreaus Jahrhundert-„ Ring“ in Bayreuth endgültig durchsetzte. Glass‘ Musik besteht maßgeblich aus den berühmten Patterns, kleinen und kleinsten rhythmischen Motiven, die mikroskopisch abgewandelt in langen Reihen wiederholt werden. Die vom Uraufführungsregisseur Robert Wilson zusammengestellten Texte präsentieren weder eine Handlung noch eine in irgendeiner Form sinnhafte oder -stiftende Behandlung eines Themas, abgesehen vielleicht vom Assoziationsraum um die im Titel genannte historische Figur: Einstein, Relativitätstheorie, Kernphysik, Krieg und Frieden, weißes Strubbelhaar, Geigenspiel, Amerika, Science Fiction.

Robert Wilson Inszenierung der Uraufführung von 1976 wirkt weiter stilbildend

Stilbildend für das höchst selten aufgeführte Stück ist nach wie vor die zuletzt 2011 in Paris wiedereinstudierte Uraufführungsinszenierung, in der Glass, Wilson und die Choreographin Lucinda Childs konsequent sämtliche zusätzlichen Assoziationsanreize vermeiden. Sie stecken alle Beteiligten in weiße Hemden und einfache, von Hosenträgern gehaltene Beinkleider und lassen sie in möglichst neutralen Haltungen und abstrakten Choreographien agieren, die von wenigen, klinisch exakt und technisch brillant gesetzten, großen Bildern überrollt werden.

Fröhliche, vom Publikum stürmisch bejubelte dreieinhalb Stunden pausenloses Musiktheater

Szenenbild aus "Einstein on the Beach"
Einstein on the Beach/Theater Dortmund © Thomas M. Jauk

Von dieser Warte aus betrachtet, ist Kay Voges‘ Inszenierung ein emanzipatorischer Akt. Schon der erste Auftritt der Sprecherinnen erfolgt bildkräftig und mit flexiblen Haltungen. Symbolhaft winden sich Bettina Lieder und Eva Maria Müller aus Zwangsjacken. „Einstein on the Beach“ in Dortmund – das sind fröhliche, vom Publikum stürmisch bejubelte dreieinhalb Stunden. Voges setzt seine zehn handverlesenen Orchestermusiker auf die Bühne vor eine große Leinwand und überlässt den Graben den in Einstein-Maske agierenden Technikern. Immer wieder zieht er blockartige Perlenschnurvorhänge vor das Orchester, die die projizierten Filmbilder vertikal zerhacken und der ohnehin überwältigenden Lichtregie von Stefan Schmidt viele zusätzliche Möglichkeiten eröffnen.

Szenenbild aus "Einstein on the Beach"
Einstein on the Beach/Theater Dortmund © Thomas M. Jauk

Die choreographischen Elemente ersetzt Voges durch große Bilder: ein auf der Stelle tanzendes Riesengehirn oder zwei haarlose Frauen, die ihre weiten Gewänder im Wind flattern lassen und dabei in verschiedene Farben getaucht erscheinen. Auf dem Höhepunkt kommen die grandiosen Solisten des ChorWerk Ruhr als Zotteleremiten mit Plumpaquatsch-Beinen in und durch den Zuschauerraum gestakst, was vielleicht ein bisschen des Guten zu viel ist, genau wie die oft rasend schnell wechselnden Begriffe und Formeln auf der Übertitelungsanlage.

Bunt, wild, abgedreht

Im Ganzen aber begeistert der pausenlose Abend, an dem dem Publikum ausdrücklich das Recht eingeräumt wird, sich subjektive Auszeiten zu nehmen. Bei aller Buntheit, Wildheit und Abgedrehtheit beschleicht einen nie das Gefühl, Voges und sein ausgezeichneter musikalischer Leiter Florian Helgath würden die Kontrolle verlieren oder am Stück vorbeilaufen. Die repetitiven Strukturen werden szenisch vermittelt und nie aufgebrochen. Die besonderen Momente, die diese Musik durchaus hat, werden beispielhaft hörbar gemacht, am schönsten vielleicht im Doppel-Pas de Deux der beiden Sprecherinnen mit Bassklarinette und Sopransaxophon. Den ganzen, langen Abend über sind Bilder und Bewegungen so präzise und soghaft aufeinander abgestimmt, dass man sich auf einem extrem intensiven, aber nicht süchtig machenden Drogentrip wähnt.

Am Ende kommt alles zur Ruhe

Und wenn alles doch zu viel wird, die Texte zu redundant wirken und die Musik überhaupt nicht mehr vom Fleck zu kommen scheint, kommt der Schauspieler Andreas Beck im Affenkostüm, sieht einen streng und beruhigend an, spricht in deutscher Sprache wunderbar sonor einen Text der Figur Lucky aus Becketts „Warten auf Godot“ oder zitiert aus einem Sachbuch des österreichischen Psychiaters Leo Navratil. Zum Ende hin nimmt er seinen Gorillakopf ab und erzählt, gleichfalls in deutscher Sprache, die kleine Liebesgeschichte, mit der Glass und Wilson ihre Oper schließen. Alles kommt zur Ruhe. Die von Albert Einstein in Gestalt des großartigen Violinisten Önder Baloglu gespielte Geige bleibt allein zurück und verlischt in der Dunkelheit.

Szenenbild aus "Einstein on the Beach"
Einstein on the Beach/Theater Dortmund © Thomas M. Jauk

Theater Dortmund
Glass: Einstein on the Beach

Ausführende: Florian Helgath (Leitung), Kay Voges (Regie), Pia Maria Mackert (Bühne), Mona Ulrich (Kostüme), Stefan Schmidt (Licht), Hasti Molavian, Ileana Matescu, Hannes Brock (Sänger), Bettina Lieder, Eva Verena Müller, Andreas Beck (Schauspieler), Sujin Jung, Petra Riesenweber (Orgel), Önder Baloglu (Einstein, Violine), Felix Reimann, Britta Schott, Anna Pajak-Michaelis (Flöte), Matthias Grimminger (Sopransaxofon), Kristof Dömötör (Tenorsaxofon), Ralf Ludwig (Bassklarinette), ChorWerk Ruhr

Termine: 23. (Premiere) & 28.4., 4. & 13.5., 4.6.

Sehen Sie Ausschnitte aus den Proben zu „Einstein on the Beach“:

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