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Opern-Kritik: Theater Erfurt – Orestes

Postwagnerianisches Antiken-Bühnenfestspiel

(Erfurt, 20.5.2023) Als Finale seiner „Griechischen (Musiktheater-)Spielzeit“ präsentierte das Theater Erfurt eine echte Entdeckung: Felix Weingartners Trilogie „Orestes“ ging nach der Uraufführung 1902 in Leipzig und jahrelanger Entstehung über große deutsche Bühnen. In Erfurt bereichert sie jetzt das Kenntnisspektrum über das Musiktheater um 1900 beträchtlich.

vonRoland H. Dippel,

Die Musik des von Berlin bis Wien erfolgreichen Dirigenten und Komponisten Felix Weingartner (1863-1942) zeichnet sich durch große Farbigkeit aus. Ein intelligenter und weit denkender Wagner-Epigone war Weingartner durch und durch. Bei ihm findet sich fast alles Wesentliche aus dessen theoretischer Ideenschmiede. Erstens: Textbuch vom Komponisten höchstselbst, zweitens: die Aneignung eines Mythos, drittens: unendliche Melodie. Diese Visionen übernahm Weingartner von Wagners „Kunstwerk der Zukunft“, wobei dieses Ideal um 1900 aufgrund massenhafter Nachahmung nicht mehr ganz taufrisch, von der Sensation zum Standard geworden war. In Weingartners drei Teilen „Agamemnon“, „Das Todtenopfer“ und „Die Erinyen“ vollzieht sich zudem ein musikalischer Schärfungs- und Verdichtungsprozess. Weingartner war mit der Vorliebe für diesen Stoff nicht allein: In Russland vollendete Sergei Taneyev seine „Oresteia“. Auch Vittorio Gnecchis „Cassandra“ wurde von Richard Strauss‘ „Elektra“ ausgebremst. Bei Weingartner erscheint die hellsichtige Kassandra wie in Hector Berlioz‘ von Felix Mottl 1890 in Karlsruhe wiederentdeckter „Trojanern“ mit einigen anderen gemeuchelten Figuren als Geist.

Szenenbild aus „Orestes“ am Theater Erfurt
Szenenbild aus „Orestes“ am Theater Erfurt

Nekrophilie, Furien-Karneval und griechische Ikonen

Intendant Guy Montavon erzählt den von Aischylos zu einer der ersten attischen Tragödien-Trilogien gemachten Mythos und das Weingartner-Opus sehr geradlinig. Eine konzeptionelle Positionierung entsteht vor allem durch die farbkräftige wie ironische Ausstattung von Hank Irwin Kittel. Dass es bei Weingartner ordentlich wagnert, darf man auch sehen. Die breite, hohe und helle Rahmenröhre erinnert zu Beginn untrüglich an Peter Sykoras und Götz‘ Friedrichs legendären „Zeittunnel-Ring“, der an der Deutschen Oper Berlin bis vor wenigen Jahren im Repertoire war. Pathos, Parodie und ein Zitat von Füsslis „Nachtmahr“ greifen eng ineinander bei Klytämnestras‘ eheschänderischem Sandalenfilm-Bett über dem transparenten Sarkophag des von ihr gemeuchelten Agamemnon. Daniela Gerstenmeyer als Elektra ist ein recht braver Charakter. Laura Nielsen erhielt als Kassandra eine große Soloszene, mit der sie etwas am dominanten Gewicht Klytämnestras im ersten Teil sägt. Elsa Roux Chamoux als Haushofmeistern Kilissa hat einen kurzen, straffen Volleinsatz.

Szenenbild aus „Orestes“ am Theater Erfurt
Szenenbild aus „Orestes“ am Theater Erfurt

Schön die Outfits mit Referenzen an Ikonen des 20. Jahrhunderts: Die frühere Erfurter Erfolge rasant und expressiv fortsetzende Ilia Papandreou ähnelt – passend zu ihrem dunklen Timbre und starker Durchschlagskraft – an Maria Callas in Pasolinis „Medea“-Film. Candela Gotelli als Pallas Athene erscheint mit Nana Mouskouri-Brille im hellen Kostüm wie zum Gala-Auftritt mit „Weiße Rosen aus Athen“. Bei Kakhabers Shavidzes Agamemnon hört man Kriegstrauma und autoritäre Wucht aus der Stimme. Auch Siyabulela Ntlale springt als schroffer Mörder Ägistos wie aus einem italoamerikanischen Mafioso-Epos ins gar nicht so edle Weingartner-Musikdrama. Brett Sprague mit idealem lyrischem Tenor und Konditionsreserven bleibt in der Attitüde des netten Jungen von nebenan. Die Partie ist schwierig, weil Weingartner sie mit vielen kantablen Inseln ausstattete, die durch die böse Handlung schwerlich gerechtfertigt sind.

Szenenbild aus „Orestes“ am Theater Erfurt
Szenenbild aus „Orestes“ am Theater Erfurt

Chorszenen mit oratorienhafter Dichte

Wie bei Franz Schreker und Engelbert Humperdinck sind über Weingartners souveränem Orchesterrausch rest-lyrische oder hochdramatische Stimmen denkbar. In Erfurt wählte man erstere Lösung. Dass viele Ensemble-Mitglieder mehrere Stimmfächer abdecken, bewährt sich auch hier. „Orestes“ ist eine der Produktionen, in der das Philharmonische Orchester Erfurt die Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach bei sich zu Gast im Graben hat. Alexander Prior zelebriert und durchwirbelt in einem melodiösen, fast kulinarischen Gestus Weingartners sehr ariose, nur selten rezitativische Komposition. In den Chorszenen steigert diese sich zu oratorienhafter Dichte. Markus Baisch holt mit dem Opernchor, der hier nach „Le siège de Corinth“ in der „Griechischen Spielzeit“ seine nächste große bis großartige Aufgabe hat, deutlich die dramatischen Setzungen heraus.

Szenenbild aus „Orestes“ am Theater Erfurt
Szenenbild aus „Orestes“ am Theater Erfurt

Weingartners „Orestes“ nimmt Strauss‘ große Melodie vorweg

Mit einem zeitlichen Abstand von über hundert Jahren hört man einiges deutlicher: In den ersten beiden „Orestes“-Teilen steuert Weingartner keine Chromatik- oder Polytonalitätsrekorde an. Da gibt es Analogien zum diatonischen Gustav Mahler und zum melodisch strukturierten Humperdinck. Da dachte Weingartner wohl auch an die Oratorien- und Kantaten-Stücke von Max Bruch. Manches gemahnt an weitaus später Entstandenes, was Weingartner bei der Ausführung von „Orestes“ nicht gekannt haben kann. Einmal nimmt er die große Melodie aus Elektras Auftrittsmonolog bei Strauss vorweg. Und stellenweise leuchtet es in „Orestes“ wie in „Die Frau ohne Schatten“ und „Ariadne auf Naxos“.

Szenenbild aus „Orestes“ am Theater Erfurt
Szenenbild aus „Orestes“ am Theater Erfurt

Kompositorischer Gestaltwandel

Im Übergang zum dritten Teil ereignet sich ein ähnlicher Riss zu harmonischer Verdichtung und Intensivierung wie zwischen Wagners zweitem und dritten „Siegfried“-Akt. Wie Wagners Erda-Szene steigert sich Weingartner zu einem Exkurs ins Unter- und Außerirdische, wenn die Erin(n)yen und die Geister der Vergangenheit kommen. Noch eine Metamorphose vollzieht er im Finale: Pallas Athene artikuliert sich mit einem Accompagnato-Rezitativ, wie man sich um 1900 Christoph Willibald Glucks Deklamationspathos vorstellte. Ein ideales Stück also für das Theater Erfurt und seine Entdeckungsambitionen, die in den nächsten Spielzeiten hoffentlich die vergleichbar faszinierende Fortsetzung finden.

Theater Erfurt
Weingartner: Orestes

Alexander Prior (Leitung), Guy Montavon (Regie), Hank Irwin Kittel (Ausstattung), Arne Langer (Dramaturgie), Markus Baisch (Chor), Kakhaber Shavidze (Agamemmnon & sein Geist), Siyabulela Ntlale (Ägistos), Ilia Papandreou (Klytämnestra & ihr Geist), Brett Sprague (Orestes), Daniela Gerstenmeyer (Elektra), Elsa Roux Chamoux (Kilissa & 1. Erinys), Laura Nielsen (Kassandra & ihr Geist), Candela Gotelli (Athene), Katja Bildt (1. Magd & Die greise Seherin des Apoll), Máté Sólyom-Nagy (Ein Wächter), Tristan Blanchet (Ein Bote), Juri Batukov (1. Greis), Jörg Rathmann (2. Greis), Opernchor des Theaters Erfurt, Philharmonisches Orchester Erfurt, Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach

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