Wasser ist zu Spielzeitbeginn allgegenwärtig am und im Erfurter Theater: Vor dem Eingang des 20 Jahre alten Neubaus plätschern flache Ströme dem Publikum entgegen, auf der Szene beginnt die „Uferlos“ überschriebene Saison mit Benjamin Brittens Fischer-Porträt „Peter Grimes“. Am Horizont der mit bedrohlichen Steinplatten eng umgrenzten Bühne (Wolfgang von Zoubek) beflimmert das Meer in seinen unterschiedlichsten Charakteren als Videoprojektion die Szene, mal romantisch still unterm aufgehenden Vollmond, mal stürmisch und wild unter Blitz und Donner. Am Schluss saugt ein Tsunami das ganze Volk auf und vervollständigt so die Apokalypse eines unsteten Lebens, recht frei von Regisseur Marin Blažević in die Musik hineininterpretiert.
Ein Individuum, das an der zischelnden Masse zerbrechen muss
Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“ entstand 1944, mitten im Zweiten Weltkrieg, dessen Schrecken der Komponist schon 1939 nach Amerika entflohen und erst 1942 – trotz Anklage vor dem Tribunal wegen Kriegsdienstverweigerung – zurückgekehrt war. An der Titelfigur des Fischers Grimes (zu Deutsch: „der Schmutzige“) interessierte ihn vor allem der Außenseiter, der sich einer verleumderischen, kleinkarierten Dorfgemeinschaft gegenübersieht. Nach dem rätselhaften Tod seines ersten Lehrlings vor Gericht gestellt, wird Grimes zwar freigesprochen, aber misstrauisch beäugt. Als dann auch der zweite Gehilfe in Panik von einer Klippe in den Tod stürzt, hält Grimes dem aggressiven Mob nicht mehr stand und versenkt sich selbst in den Fluten des Meeres. Dabei ist zu keiner Zeit klar, welche Schuld er wirklich auf sich genommen hat – physisch oder psychisch, und das macht den ganzen Reiz des Stückes aus: Er stellt uns ein Individuum vor, das, aufbrausend und mürrisch, doch vom hellen, lichten, schönen Leben träumt, sich aufbäumt und lossagt von der zischelnden Masse – und doch an ihr zerbrechen muss.
Brittens Homosexualität schwingt als Subtext immer mit
Man kann „Peter Grimes“ nicht ohne autobiografischen Bezug des Autors und seines ersten Protagonisten lesen. Immerhin hatte Britten seine Homosexualität trotz zahlreicher eindeutiger Vertonungen immer in den Subtext seiner Werke verdrängt, auch wenn er sie in der seit 1937 bestehenden, sehr erfüllten jahrzehntelangen Lebens- wie Künstlerpartnerschaft zu Peter Pears – dem Peter Grimes der Uraufführung – verwirklicht hatte. Gleichwohl litt er unter seinen auch pädophilen Neigungen, bezeichnete sie als Sünde und suchte seine bohrende Selbstgeißelung in zahlreichen Werken zu verarbeiten, die Knabensolisten oder -chöre vorsehen und daraus zugleich einen ästhetisch-ätherischen Mehrwert ziehen (auch wenn der Lehrjunge in „Peter Grimes“ ein stumme und doch wichtige Rolle hat). Dass in Großbritannien Homoerotik bis 1967 und damit – wie in anderen Ländern auch – lange unter Strafe stand und nur wenige enge Freunde über das Paar Britten-Pears Bescheid wussten, kann man bei der Rezeption seiner Werke ebenso wenig übersehen wie bei jenen Peter Tschaikowskis. Wäre Britten nicht eine so schillernde und bedeutende Künstlerpersönlichkeit gewesen – immerhin stellte er den bedeutendsten englischen Komponisten seit Henry Purcell da –, würde er wohl doch sehr am Rand der Gesellschaft gestanden haben.
Bigotte Moralität
Grimes ist ebenfalls ein Aussätziger in seiner Welt, deren bigotte Moralität –personifiziert in der Figur des Sektenführers Bob Boles (großartig: Dan Karlström) – einerseits das Gewissen des Titelhelden peinigt und andererseits seinen Widerspruchsgeist weckt. Regisseur Marin Blažević arbeitet das in seiner Personenführung ganz wunderbar heraus, und Brett Sprague folgt ihm gern. Dabei entwickeln beide seine Stärke besonders in den lyrischen Stellen, die stimmlich Spragues weichem Timbre gut liegen. Auch Peter Pears‘ Stimme, die Brittens Vokalstil wesentlich beeinflusste, war sehr hoch, eher nasal gelagert und vibratoarm. Dafür kann Sprague nicht ganz so überzeugen, wenn darstellerisch wie musikalisch eine barsche, raue Tonalität gefragt ist.
Eine Inszenierung voller anrührender Momente
In ähnlicher Weise trifft das auf die Inszenierung zu, die sich auf die Szenen innerlicher Betrachtung konzentriert und ohne Kitsch anrührende Momente schafft. Dank der zeitlosen Anlage der Interpretation ergeben sich Parallelen wie von selbst, müssen nicht oktroyiert oder hinzuerfunden werden. Dagegen fehlt es in großen, groben Szenen an Durchschlagskraft, etwa beim Chor, der seiner tragenden Rolle – quasi als Gegenspieler von Grimes – darstellerisch nicht immer gewachsen ist, auch wenn er bis auf wenige intonatorische Schwierigkeiten musikalisch die höchst anspruchsvolle Partie gut bewältigt. Hier mangelt es der Regie an Ideen, wie die tumbe Volksmasse sogkräftiger dazustellen sei. Der Hinweis auf das Gefangensein in der Konvention, den Kostümbildnerin Sandra Dekanić mit ihren Fischernetzzitaten gibt, reicht bei weitem nicht aus, um die Beweggründe und die innere psychologische Logik des gesellschaftlichen Widerparts darzulegen. Dass das Volk am Ende selbst unter der Naturgewalt vergeht, mag ein modischer ökologischer Gedanke sein, aber er wird im Verlauf der Inszenierung nicht entwickelt. Im Stück selbst ist dann doch noch mehr dialektische Weisheit verborgen. Sie liegt kaum genutzt brach.
Figuren voller innerer Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit
Dagegen können Siyabulela Ntlale als Kapitänskollege Balstrode und insbesondere Claire Rutter als verwitwete Lehrerin Ellen Orford und Freundin von Grimes sehr wohl mit ihrer Darstellung innerer Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit überzeugen. Die beiden sind sowohl szenisch als auch musikalisch die eigentlichen Helden des Abends, der im Übrigen von einer soliden Leistung des Philharmonischen Orchesters Erfurt getragen wird. Das leitet der noch sehr junge Erste Kapellmeister Clemens Fieguth mit stupender Präzision, so dass alles an seinem Platz sitzt. Allerdings schleift der Dirigent den Klang manchmal zu sehr ab, wo er aufgeraut sein müsste, und fügt sich damit in das Konzept der szenischen Lesart auf merkwürdige Weise ein. Dieser Britten ist weit mehr als ein variiertes Klanggemälde der berühmten „Sea Interludes“, er braucht Sinnlichkeit wie Schroffheit, Verletzlichkeit wie Brutalität, Ironie wie Tragik, Kontrast vor allem. Vielleicht reift er noch nach.
Die bejubelte Produktion ist eine Reise nach Thüringen wert
In Zeiten des Individualismus, dessen Mantra der Selbstverwirklichung jedwede Vergesellschaftung und jeden sozialen Instinkt verleugnet, mag es nicht einfach erscheinen, ein Theaterstück über die Emanzipation eines Idealisten von einer gleichförmigen Masse zu inszenieren. Das liegt auch daran, dass der Kanon halbwegs publikumswirksamer und spielbarer Werke aus Epochen stammt, die quasi antizyklisch zur Gegenwart in völlig anderen gesellschaftlichen Kontexten zu verorten sind. Dass sie trotzdem auch heute noch ihre Wirkung nicht verfehlen, dafür spricht ihre künstlerische Qualität. Schon deswegen ist die bejubelte Produktion, für die bedauerlicherweise noch sehr viele Karten zu haben sind (leider kein Einzelfall auf Erfurts Spielplan), eine Reise nach Thüringen wert.
Theater Erfurt
Britten: Peter Grimes
Clemens Fieguth (Leitung), Marin Blažević (Regie), Wolfgang von Zoubek (Bühne), Sandra Dekanić (Kostüme), Torsten Bante (Licht), Bartholomäus Pakulsk (Dramaturgie), Brett Sprague, Claire Rutter, Siyabulela Ntlale, Katja Bildt, Candela Gotelli, Daniela Gerstenmeyer, Jörg Rathmann, Juri Batukov, Valeria Mudra, Tristan Blanchet, Máté Sólyom-Nagy, Khakaber Shavidz, Philharmonisches Orchester Erfurt