Die griechische Spielzeit des Theaters Erfurt hebt an ihrem Ende mit Christoph Willibald Glucks „Telemaco“ und ab 20. Mai mit Felix Weingartners „Orestes“ zu finalen Höhenflügen ab. Glucks zwischen seinen italienischen Fassungen der Reformopern „Orfeo ed Euridice“ und „Alceste“ entstandene opera seria gelangte als Festvorstellung zur Vermählung von Erzherzog Joseph von Österreich (später Kaiser Joseph II.) mit Prinzessin Maria Josepha von Bayern am 30. Januar 1765 im Wiener Burgtheater zur Uraufführung. Die Episode der Befreiung des Odysseus und seiner Gefährtin aus den Fängen der Zauberin Circe auf der Insel Alaia frei nach Homer und Fénélon war allerdings kein passendes Sujet für eine optimistische Festoper, selbst wenn die Episode mit der Verwandlung von Odysseus‘ Gefährten in Schweine keine Verwendung fand. Musikalisch erweist sich Glucks opera seria am Theater Erfurt trotz ambivalenter Wertung in der spärlichen Sekundärliteratur als packendes Werk mit brillanter und betörender Arienfolge.
Auch „Telemaco“ ist ein Beispiel dafür, dass die Übergangsphase zwischen Barock und Klassik noch spannende Entdeckungen bereithält. Zu den bemerkenswerten Komponisten neben Tommaso Traetta und Johann Christian, dem „Londoner“ Bach, gehören auch Glucks Opern, welche nicht zu seinem Reformschaffen zählen.
„Telemaco“: Figurenkonstellation wie in Mozarts „Idomeneo“
„Idomeneus und ich sind Freunde“, sagt Ulisse in einem Rezitativ. Und tatsächlich: Die Figurenkonstellation in Marco Coltellinis Libretto zu „Telemaco ossia L’isola di Circe“ ist analog zu Giambattista Varescos „Idomeneo“ für Wolfgang Amadeus Mozart (München 1781). Die Troia-Heimkehrer Ulisse und Idomeneo sind beide Tenöre, ihre Söhne Telemaco und Idamante Kastraten-/Mezzo-Partien, deren ideale Geliebten die Soprane Asteria, bei Gluck eine Tochter des Idomeneo, und Ilia. Es flankieren die Sopran- bzw. Tenor-Ratgebenden Merione und Arbace sowie ein kurzes, aber wichtiges Bass-Orakel. Harte Störfaktoren sind in beiden Opern äußerst furiose Koloraturpartien: Bei Gluck Circe, bei Mozart die um ihr Liebesglück klagende, zeternde Elettra.
Belcanto-Heroine von großartigem Format: Candela Gotelli
Die Zauberin Circe steht bei Gluck im Zentrum. Sie bewältigt mehr Vokalzierrat als alle anderen Partien. Gluck stattete die etwa auf halber Zeitstrecke zwischen Händels verführerischer Liebesinsel-Eigentümerin Alcina und Mozarts koloraturenflammender Königin der Nacht in „Die Zauberflöte“ liegende Circe mit hybriden Melodiegebilden aus. Das Theater Erfurt hat für diese mit der erst 26-jährigen Candela Gotelli eine stratosphärische Belcanto-Heroine von großartigem Format. Man weiß nicht, ob mehr die Qualität oder der Mut der Sängerin zu bewundern ist: Erst vor kurzem hatte sie in Erfurt mit Pamyra in „Le siège de Corinth“ nicht nur die souveräne Leistung in einer der schwersten Rossini-Partien bewältigt, sondern auch ein bewegendes Rollenporträt geschaffen.
In „Telemaco“ sind Gotellis Koloraturen aus poliertem und deshalb blendendem Eisen. Das macht zwar enormen Eindruck, aber Candela Gotelli könnte noch mehr. Denn einerseits unterstützt das Dirigat von Nicolas Krüger ihren geschärften Ansatz, indem er auch der Mozart-Besetzung des Philharmonischen Orchesters Erfurt einen meist eiskalten und deshalb immer bestechenden Glanz gibt. Aber damit gewähren Nicolas Krüger und die Regie der Figur Circe leider nur den einen Teil des durch Ambivalenzen doch noch wirkungsvolleren Profils.
Musik von einem quasi vor-mozartischen Adel
Es liegt wohl am durch zahlreiche Musical- und Komödien-Inszenierungen an klare Schwarz-Weiß-Verhältnisse gewöhnten Stephan Witzlinger, dass er bei Circes erstem Auftritt schon deren böses Ende vorwegnimmt und sie durch düsteres Make-Up und kunstvolle Mähne als verderbten Weibsteufel stigmatisiert. Dabei hätte Hank Irwin Kittels abstraktes Bühnenbild mit den bunt beleuchteten Dekostäben, den schwarzen Flächen und den strikten Separierungen weiblicher und männlicher Sphären durch die Kostüme ohne weiteres einen dialektischen Krieg der Geschlechter ermöglicht, wie er auch in „Die Zauberflöte“ steckt.
Gluck komponierte für „Telemaco“ Musik von einem quasi vor-mozartischen Adel. Als Circe kreiert Candela Gotelli darin ein Partien-Filetstück, das mehr bewundernswerte Bravour als hier mögliche Psychologie enthält. Doch dabei scheint sie im Sprung auf das schwere Fach die ihr derzeit ideal liegenden Belcanto-Partien Lucia & Co überspringen zu wollen … Dieser Verzicht wäre angesichts einer intensiven Gestaltungskraft und beeindruckenden Schönheit ihrer Stimme schade.
Spannungsgeladene Entdeckung
Etwas in Mitleidenschaft gezogen durch die straffe bis stellenweise aggressive Haltung im Orchestergraben waren auch die anderen Partien. Julian Freibott gibt in Erscheinung und Stimme einen idealen Ulisse mit mehr Leidensdruck als Listenreichtum. Daniela Gerstenmeyer modelliert die wunschgemäße Brautprinzessin mit vokalem Sanft- und Edelmut, der im zweiten Teil die angemessen hochdramatische Steigerung erfährt.
Die ukrainische Mezzosopranistin Valeria Mudra verfügt in der Titelpartie über einen kultiviert farbenreichen Mezzo, den sie mit mehr Mut zum Ausdruck nutzen könnte, zumal seit Erscheinen von Fénélons Roman „Die Abenteuer des Telemach“ der Sohn des Odysseus auf den Opernbühnen als neben dem Helden vor Troja fast ebenbürtige Figur betrachtet wurde. Evelina Liubonko als Merione ergänzt das Ensemble auf ebenbürtigem Niveau. Insgesamt – auch durch den straff geführten Chor (Einstudierung: Markus Baisch) – ist die Erfurter Produktion ein eindrucksvoller Beweis dafür, dass das Genre der opera seria in ihrer fortgeschrittenen Entwicklung nach 1750 weitaus spannender ist als oft behauptet.
Theater Erfurt
Gluck: Telemaco
Nicolas Krüger (Leitung), Stephan Witzlinger (Regie), Stephan Witzlinger & Bartholomäus Pakulski (Idee & Konzept), Hank Irwin Kittel (Bühne & Kostüme), Bartholomäus Pakulski (Dramaturgie), Markus Baisch (Chor), Valeria Mudra, Candela Gotelli, Julian Freibott, Evelina Liubonko, Daniela Gerstenmeyer, Kakhaber Shavidze, Philharmonisches Orchester Erfurt, Opernchor des Theater Erfurt