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Opern-Kritik: Theater Hagen – Tristan und Isolde

Jeder für sich allein zu Haus

(Hagen, 07.04.2019) Jochen Biganzoli gelingt es in Hagen tatsächlich die innere Handlung in Wagners „Tristan und Isolde“ sichtbar zu machen.

vonJoachim Lange,

Richard Wagners „Tristan und Isolde“ im Theater Hagen? Das klingt nicht nur mutig, das ist es auch. Schon, weil das Orchester weniger als 70 Köpfe zählt. Da wird der Tristanklang vor allem im Gegenlicht der Bläser pointierter, vermag sich nicht so narkotisch zu entfalten wie mit einer großformatigen Streicherbesetzung. Doch daran gewöhnt man sich schnell. Auch, weil Joseph Trafton am Pult des Philharmonischen Orchesters Hagen aus der Not eine Tugend macht und durchaus dramatisch zuspitzt.

Eine Besetzung, die auch jedem größeren Haus zur Ehre gereichen würde

Die ausgesprochen ambitionierte Inszenierung von Jochen Biganzoli vereint zudem Protagonisten, deren vokale und darstellerische Präsenz auch jedem größeren Haus zur Ehre gereichen würde. Zumal sie hier alle während des gesamten Abends auf der Bühne präsent sind und ihre Rolle spielen! Das gilt allen voran für Magdalena Anna Hofmanns auch in den Ausbrüchen mühelos wirkende, nie schrille Isolde. Ihr bleibt am Ende genügend Kraft für einen geradezu mustergültigen Liebestod. Zoltán Nyári ist ein Tristan, der darstellerisch und vokal eine gewisse Lässigkeit aufbietet. Bis hin zu den fabelhaft gemeisterten Fieberfantasien im dritten Aufzug zeigt er keine Schwächen. Wieland Satter ist ein Kurwenal-Kraftpaket und Khatuna Mikaberidze eine dunkel leuchtende, eloquente und sich stimmlich ideal von Isolde abhebende Brangäne. Dong-Won Seo steuert den hochsoliden Marke bei.

Ein Coup: Der Riesensetzkasten, der jedem Protagonisten seine eigene Bühne verordnet

Riesensetzkasten als Bühnenbild
Riesensetzkasten als Bühnenbild © Klaus Lefebvre

Der Regisseur und sein Bühnenbildner Wolf Gutjahr (die Kostüme steuert Katharina Weissenborn bei) verordnen jedem Protagonisten gleichsam seine eigene Bühne. Ein Coup. Noch dazu mit Langzeitwirkung! Es ist ein Riesensetzkasten der besonderen Art. Mit unterschiedlich großen, separat abgeschlossenen und voneinander isolierten Räumen für Tristan, Isolde, Brangäne, Kurwenal und den König. Über ihre Zuordnung zueinander ließe sich trefflich streiten. Dass diese Bühne nicht jedes Geheimnis preis gibt, spricht nicht gegen sie. Was sie aber preisgibt, ist eine eskalierende Intelligenz, ja sogar eine unvermutete sinnliche Opulenz dieser Studie über die inneren Gedankenströme jedes einzelnen. Biganzoli dosiert Veränderungen mit der Raffinesse des erfahrenen Theaterpraktikers. Ein in Licht, dezente Zeichen und individuelles (Nicht-)Handeln der Protagonisten übersetztes Atmen der Musik läuft auf das große Liebesduett im zweiten Aufzug zu.

„Das ist mein Brief an eine Welt, die niemals schrieb an mich.“

Anfangs haben wir den ein wenig selbstverliebten – oder in sich selbst verloreneren – Tristan in dem größten der Bühnenkästen oben links mit Riesenfoto von sich selbst an der Rückwand erlebt. Eine neon- bzw. taghelle Zelle. Es ist die zum Raum gewordene Selbstisolation in der Helle des Tages, die ihn (in der Metaphorik des Textes) von Isolde trennt. Isoldes Welt liegt diagonal rechts unten, ist dunkel und lediglich mit einem Ledersessel bestückt. Die ganz in schwarz Gekleidete nutzt die dunkelgrauen Wände für reflektierende Sprüche, auch für einen Kreideumriss ihrer selbst und einen von Tristan. „Das ist mein Brief an eine Welt, die niemals schrieb an mich.“ Aus dem Programm erfahren wir, dass er von Emily Dickinson aus dem Jahre 1863 stammt – also aus der Entstehungszeit des „Tristan“. Eine von den Hausaufgaben, die man mit nach Hause nimmt.

Tristan und Isolde brauchen die rein räumliche Nähe gar nicht, um ineinander aufzugehen

Die beiden verlassen ihre Zelle nicht, aber nähern sich dennoch an. Er klebt sich ein Rotes I aufs T-Shirt, sie ein T auf ihres. Sie brauchen die rein räumliche Nähe gar nicht, um ineinander aufzugehen. Manchmal bewegen sie sich synchron. In der Liebesnacht, beim „löse von der Welt mich los“, da gelingt es der Lichtregie (Hans-Joachim Köster), allein diese beiden Räume aus der Dunkelheit leuchten zu lassen. Zugleich verlieren sich beide vor einem projizierten Porträt des jeweils anderen ineinander. So wird aus einer eher spröden Nachdenkbühne ein sinnliches Ereignis, das zudem genau der Musik entwächst.

Magdalena Anna Hofmann (Isolde)
Magdalena Anna Hofmann (Isolde) © Klaus Lefebvre

Unten links findet sich der Raum von Brangäne, die zunächst als Isoldes rechte Hand eine taffe Frau im Kostüm ist. In ihrem nüchtern funktional wirkenden Zimmer besteht die Rückwand aus Schranktüren. Hinter einer davon verkriecht sie sich, als sie Wache halten soll. Es gibt einen Tisch und eine Wanne. Das ist ein trister Ort des Wartens, so wie der von Kurwenal. Seiner ist ganz schmal und reicht auf der rechten Seite über alle Ebenen. Ein Baugerüst füllt ihn aus. Der Tristanfreund in militärischer Flecktarnuniform ist damit beschäftigt, die Wände mit Fotos und alles zum Thema Tristan zu tapezieren. Wie Brangäne auf Isolde, so ist er auf Tristan fixiert. So wie sie wird auch er zu einer Art emotionalem Kollateralschaden, als Tristan und Isolde sich ineinander verlieren. Brangäne, indem sie exzessiv zur Flasche greift. Er, indem er sich ein anderes Objekt für seine obsessive Zuwendung sucht.

Markes Zimmer ist recht klein für einen König

Kurz vor dem Inflagranti-Eklat, mit dem die Liebesnacht endet, zieht er plötzlich sein T-Shirt aus, und wir sehen auf seiner Brust einen Adler mit einem diffusen Emblem. Zusammen mit dem ausgestreckten Arm ließe das nichts Gutes für dessen Zukunft ahnen, wenn er denn überleben würde. Ähnlich verhält es sich mit Marke in seinem Zimmer ganz oben. Es ist recht klein für einen König, voll mit Umzugskartons, aber der Champagner ist griffbereit, die Lampen luxuriös. Er sortiert die Kleider seiner verstorbenen Frau, hat irgendwann Tristans Bild über deren Foto in den Bilderrahmen gesteckt. Das Gewehr ist immer griffbereit. Einmal steckt er sich den Lauf sogar in den Mund.

Alles was oberflächlich betrachtet zwischen diesen Personen passiert, wird sichtbar in der Wirkung, die es beim jeweils anderen hat. In synchroner Bewegung und erkennbarem direktem oder indirektem Reagieren. Für einen kleinen Rest – etwa für die Auftritte von Seemann (Daniel Jenz), Steuermann (Egidijus Urbonas), Melot (Richard von Gemert) oder der Englischhorn-Solistin – bleibt ein kleiner, weiß ausgeleuchteter schmaler Raum in der Mitte. Erkennbar außerhalb der komplexen Bildlösung, aber doch in sie integriert.

Wenn die Nachtgeweihten zum Bild werden

Dong-Won Seo (König Marke)
Dong-Won Seo (König Marke) © Klaus Lefebvre

Bei Tristans Tod gelingt es Biganzoli, die Tag-Nacht bzw. Hell-Dunkel-Dialektik, die dauernd im Text beschworen wird, tatsächlich zum Bild werden zu lassen. Wenn Tristan tot auf seinem Stuhl zusammensinkt, verschwindet die Rückwand hinter ihm – und er bleibt nur als dunkle Silhouette im gleißenden Gegenlicht sichtbar. Diesmal beenden, neben dem tödlich getroffenen Kurwenal, auch Brangäne und der König selbst ihr irdisches Leben. Doch zum irgendwie tröstlichen Jenseitscrescendo Isoldes, kurz vor dem „Ertrinken, Versinken….“, erheben sich plötzlich alle wieder. Dass sie sich in einer anderen Welt wiederfinden, wird klar, als Isolde mit den letzten Tönen in absoluter Dunkelheit verschwindet.

Es gibt nicht viele Regisseure, die es sich trauen, eine These zu einem Werk (wie hier die von der inneren Handlung) so radikal zu überprüfen. Und noch weniger, die das mit wachsender Spannung auf der Bühne umsetzen können. Biganzoli kann es! Das Premierenpublikum dankte allen Beteiligten mit stehenden Ovationen.

Flammendes Plädoyer für ein gesichertes Fortbestehen des Theaters Hagen

Dass die Produktion nur fünfmal gespielt werden kann, liegt an den begrenzten Mitteln, die dem Haus zur Verfügung stehen. Es ist richtig, wenn der Intendant Francis Hüsers im Zweifel auf künstlerische Qualität statt auf Masse an Vorstellungen setzt. Gelungen ist ein Gesamtkunstwerk, das die vorhandenen Ressourcen voll ausschöpft, als Resultat überzeugt. Zugleich ist das ein Beispiel für die künstlerische Legitimation des deutschen Stadttheatersystem im Allgemeinen und ein Plädoyer für ein gesichertes Fortbestehen des Theaters in Hagen.

Theater Hagen
Wagner: Tristan und Isolde

Joseph Trafton (Leitung), Jochen Biganzoli (Regie), Wolf Gutjahr (Bühne), Katharina Weissenborn (Kostüme), Achim Köster (Licht), Wolfgang Müller-Salow (Chor), Francis Hüsers (Dramaturgie), Philharmonisches Orchester Hagen, Zoltán Nyári (Tristan), Dong-Won Seo (König Marke), Magdalena Anna Hofmann (Isolde), Wieland Satter (Kurwenal),  Richard van Gemert (Melot), Khatuna Mikaberidze (Brangäne), Daniel Jenz (Ein Hirte und Stimme eines jungen Seemanns), Egidijus Urbonas (Ein Steuermann)

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