Starke Kürzungen von Romanhandlungen sind auf der Bühne dringend notwendig und entsprechen der Natur von Opernadaptionen. Das trifft auch auf die „Buddenbrooks“ zu, die am Theater Kiel unter der Regie des Generalintendanten Daniel Karasek uraufgeführt werden. So startet deren Geschichte mit einer Feier anlässlich des Erstbezugs des Familiensitzes in der Mengstraße – man beschränkt sich auf das Umfeld von Thomas Buddenbrook, seinen Geschwistern und seinem Sohn Hanno. Es sind Gäste eingeladen: viele Freunde, mit den Hagenströms aber auch Konkurrenten. Hanno unterhält die Festgesellschaft mit selbstkomponierten Liedern, es wird gegessen und getanzt. Doch ein Statist mit Laptop am Stehtisch verrät eindrücklich, dass hier kein literarisches Historiengemälde nach Mann zu sehen ist.
Globale Multikrisen
Die verantwortlichen Librettisten Feridun Zaimoglu und Günter Senkel entführen die Lübecker Kaufmannsgeschichte des 19. Jahrhunderts auf die globale Bühne des „Hier-und-jetzt“. Im Dekontextualisierungswahn wird Thomas Buddenbrook zum Waffenhändler umgedeutet. Seine unmoralischen Geschäftspraktiken wäscht der gefühlskalte Unternehmer mit Solarzellen auf dem Dach, Elektroauto und Wärmepumpe sauber – soweit noch verständlich.
Unübersichtlich wird das ganze durch die diversen Seitenhiebe auf aktuelle gesellschaftliche Themen wie Geschlechtergerechtigkeit und sexueller Selbstbestimmung. So echauffiert sich Tony (Antonie) Buddenbrook, verkörpert durch Xenia Cumento, in einer flammenden Wutarie über die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit der Frau, und Sohn Hanno, den der Countertenor Elmar Hauser nicht minder überzeugend gibt, verzweifelt an der Frage, ob er Mann oder Frau ist. Gewiss gibt es Parallelen zu heute, doch Zaimoglu und Senkel scheitern am Versuch, Thomas Mann tagesaktuell aufzubereiten. Schließlich findet man sich mit dem unternehmerischen Niedergang der Familie ab, veranschaulicht durch einen Kurseinbruch der Unternehmens-Aktie.
„Buddenbrooks“ – eine Tango-Opérita
Wo der Facettenreichtum in der Handlung ermüdend ist, kann Ludger Vollmers stilistisch breit gefächerte Partitur begeistern und überraschen. So beginnt die Oper mit einer Art Musical-Chor, der das informelle Familien-Credo „Sei mit Lust bei den Geschäften des Tages, dass wir bei Nacht ruhig schlafen können“ plakatiert. Es folgt der erste Akt der zwischen einem warmen Operettenton und dramatischem, an Richard Strauss‘ „Elektra“ erinnernden Parlando-Stil diffundiert. Hier wird der Kontrast deutlich zwischen heiterer Festgesellschaft und der von Misstrauen und unternehmerischer Verantwortung geprägten Gedankenwelt Thomas Buddenbrooks. Die dritte und dominanteste Ebene ist die Gefühlswelt der Charaktere, die in einer großen Anzahl leidenschaftlicher Tango-Tableaus Zuflucht findet.
Die richtige Musik zum falschen Stück
Diese Leidenschaft spielt wiederum der großartigen Besetzung des Kieler Theaters in die Hände. Vor allem der Opernchor, der in doppelter Funktion agiert, findet durch die Tango-passión zu einer mitreißenden Tonsprache. In der Manier eines griechischen Chors kommentiert das Plenum den Zerfall der Familie; als Bediensteten-Statisterie ergreifen die Chorsängerinnen- und Sänger aber auch Partei für die Familie. Dank des lebhaften Spiels des Philharmonischen Orchesters Kiel unter dessen scheidendem Chef Benjamin Reiners gelingt eine lebhafte Interpretation der rhythmisch versierten und bunt orchestrierten Musik, in der Klavier, Cembalo, Orgel und Xylofon ebenso zur Farbvielfalt beitragen wie das reduzierte konventionelle Orchester.
Überraschende Solisten
Wahrlich beeindruckend sind indes einige der Hauptfiguren des Werks. Jörg Sabrowski, der als Thomas Buddenbrook erwartbar die sängerische Hauptlast zu tragen hat, führt als Patriarch seiner Familie und Firma baritonsouverän durch den Abend. Die Liebe zum Sohn und die gleichzeitige Verachtung von dessen sexueller Orientierung und künstlerischer Begabung führen den nüchtern-kalkulierenden Geschäftsmann an seine emotionalen Grenzen. Sabrowski ist dabei der richtige, diesen affektreichen Gesangsmarathon zu laufen.
Einer Sprinterin gleicht dagegen Xenia Cumento, die explosionsartig ihrer Gesellschaftskritik Luft macht. Am eindrücklichsten ist jedoch der Konflikt zwischen Hanno (Countertenor Elmar Hauser) und seinem Onkel, dem Pastor Sievert Tiburtius (Bass-Bariton Matteo Maria Ferretti). Der Widerspruch zwischen sexueller Progressivität und christlichem Konservatismus ist dabei so deutlich wie der Unterschied der Stimmlage. Vor allem Mauser beweist mit lyrisch herausragend ausformulierten Figurationen immer wieder aus Neue das große Verständnis seines Stimmfachs. Am Ende muss er seine Existenz in einem hinreißenden Plädoyer gegenüber Tiburtius verteidigen.
Das Spiel mit dem literarischen Feuer
Wer mit einem Titel wie „Buddenbrooks“ wirbt, löst zwangsläufig unter einem bildungsbürgerlich motivierten Opernpublikum hohe Erwartungen aus. Dass diese nicht eingelöst werden, war vorhersehbar und doch enttäuschend. Von Literaturkritiker Hellmuth Karaseks Sohn Daniel Karasek hätte man mehr Sachverstand erwartet. Das konnten nicht mal Konrad Furian und Stefan Sevenich als intrigierende Gebrüder Hagenström verhindern, die als komisches Slapstick-Duo tangotanzend die Gunst der Zuschauer zu Recht erwarben. Am Ende musste sich „Buddenbrooks“ inhaltlich zu Recht die eine oder andere Missgunstsbekundung gefallen lassen. Vollmers süffisante Musik zu einem anderen Stück hätte da besser gewirkt.
Theater Kiel
Vollmer: Buddenbrooks
Benjamin Reiners (Leitung), Daniel Karasek (Regie), Lars Peter (Bühne), Claudia Spielmann (Kostüme), Frank Böttcher (Video), George Tellos (Licht), Viola Crocetti-Gottschall (Choreografie), Ulrich Frey (Dramaturgie), Gerald Krammer (Chor), Jörg Sabrowski, Xenia Cumento, Tatia Jibladze, Elmar Hauser, Michael Müller-Kasztelan, Clara Fréjacques, Matteo Maria Ferretti, Gabriel Wernick, Konrad Furian, Stefan Sevenich, Opernchor des Theater Kiel, Kinder- und Jugendchor der Akademien am Theater Kiel, Philharmonisches Orchester Kiel