Ein junger Mann wälzt sich in seinem Bett hin und her. Jählings springt er auf, findet in dieser Nacht wie in so vielen anderen keine Ruhe. Es müssen wüste Albträume sein, die den armen Kerl plagen. Als der in schwarze Einheitskluft gesteckte, noch dazu düster vermummte Chor kurz darauf von der Hinterbühne aus auftritt, langsam nach vorne tritt und das Grauen des Krieges beklagt, hält sich der Gepeinigte die Ohren zu. Was ihm freilich wenig Entlastung bringen dürfte: Denn die dunklen Stimmen wohnen in seiner Seele, sie peinigen ihn seit Jahren, wollen ihm nicht aus dem Kopf weichen. Würde sein Nachtlager in einem Sanatorium des 19. Jahrhunderts stehen, hätten die Krankenschwestern und -pfleger ihn vermutlich längst fixiert. Der Mann ist – gelinde gesagt – verhaltensauffällig, der Volksmund würde sagen: verrückt.
Ein psychisch labiler Thronfolger hat keine Chance im Drehkreuz der Machtspiele
Immo Karamans Exposition seiner Inszenierung von Verdis „Don Carlos“ am Theater Kiel macht somit sehr schnell klar, dass es an diesem berührenden Abend sehr wohl ganz deutlich um das Schicksal des spanischen Infanten gehen wird: wie ihn der große musikalische Psychologe Giuseppe Verdi im Nachgang von Friedrich Schillers (die wahre Geschichte eher frei deutende) Tragödie gezeichnet hat, aber auch wie wir ihn aus der authentischen Geschichtsschreibung kennen, die weit mehr weiß von der psychischen und physischen Labilität des als erhofften Thronfolger gezeugten Sohns von Philipp II.
Der in strengen spanischen Herrschertugenden erzogene Spross Kaiser Karls V. hielt Carlos als nächsten König für untragbar, denn der Geisteszustand des Infanten mit seinen ständigen Stimmungswechseln und die Selbstbeherrschung des Herrschers eines Riesenreichs schienen mitnichten vereinbar. Was in vielen traditionellen Inszenierungen eher als jugendliche Schwärmerei eines dennoch veritablen Tenorhelden gezeigt (und durch entsprechende, Männlichkeitsklischees bedienende Besetzungen von Domingo bis Kaufmann gestärkt) wird, schließt Immo Karaman also blitzgescheit mit der „wahren“ Historie kurz, entwickelt somit ein schonungsloses Psychogramm des Don Carlos.

Lyrisch innerlichere Zeichnung der Figuren
Da an der Kieler Förde die fünfaktige französische Fassung des Meisterwerks auf dem Spielplan steht, wird die Lesart auch dramaturgisch und musikalisch beglaubigt: Der in der vieraktigen italienischen Fassung sonst gestrichene Fontainebleau-Akt führt uns als Vorgeschichte das frühe Kennenlernen der französischen Prinzessin Élisabeth von Valois mit dem spanischen Infanten vor Augen, deren Heirat endlich den Frieden nach den langen Kriegszeiten zwischen ihren Ländern besiegeln soll. Das französische Idiom verschiebt zudem gesanglich die Perspektiven weg vom klassischen italienischen Heldentypus zu einer lyrisch innerlicheren Zeichnung der Figuren – zumal von jener der Titelfigur.
Hoher Abstraktionsgrad der theatralischen Zeichen
Dieser Carlos steht also von Beginn an am Abgrund seines Krankenlagers, scheint in dieser Welt kaum lebensfähig. Seine Todesstunde fängt gleichsam bereits im 1. Akt an zu schlagen, wenn der Chor jubelnd den ersehnten Friedensschluss besingt, Élisabeth und Carlos aber ihr schreckliches Schicksal zu beklagen haben, da der alternde Philipp II. seinerseits auf der Eheschließung mit der französischen Prinzessin besteht, die Liebe des gleichaltrigen jungen Paars somit der Staatsraison geopfert wird.
Viele Regieteams würden diesen bei Verdi zentralen Widerspruch von privatem Glücksverlangen und politischem Zwang nun mit krassem (Pseudo-)Realismus auf die Bühne bringen: sei es, indem sie einen Orwell‘schen Überwachungsstaat für die Unterdrückungsmechanismen der Inquisition zeigen, sei es durch die naturalistische Schilderung vom Grauen des Krieges. Regisseur Immo Karaman, der auch für die Bühne verantwortlich zeichnet, und Fabian Posca (Choreografie und Kostüme) setzen stattdessen auf einen hohen Abstraktionsgrad der theatralischen Zeichen.

Diese sind teils von hoher Poesie: Da wird ihr Don Carlos im zweiten Akt nachgerade zu einem Bruder des Werther: Wenn sein Freund Rodrigue vorn auf der Bühne Élisabeth bittet, Carlos zu retten, schreibt der Liebeskranke auf seinem auf die Hinterbühne gerückten Bett ohne Unterlass Briefe an die ihm entfernte Geliebte. Einfühlsam führt uns Karaman die Umkehrung der Geschlechternormen vor Augen, wenn die beiden sich vor seiner erhofften Entsendung in die Niederlande noch einmal begegnen: Da vertritt die Frau im sittenstrengen Hosenanzug und in hoheitsvoller Haltung ganz die Konformität mit dem System, Carlos hingegen ist ein Wesen der reinen überschäumenden Emotion.
Das Ballett: der stilisierte Horror im Klanggewand platter Neujahrskonzertmusik stellt die Titelfigur gleichsam seelennackt aus
Sogar dem äußerlichen Erfordernis der französischen Grand Opéra einer offiziell nur dem Divertissement dienenden Balletteinlage gewinnt das Team dramaturgische Stringenz ab. Pflegerinnen und Pfleger einer Krankenstation mit diversen Betten nehmen einen kindlichen Patienten auf: Es ist der Knabe Carlos, der von seinem königlichen Vater höchstselbst hierin eingewiesen – und kaltgestellt wird. Der gezeigte stilisierte Horror im Klanggewand platter Neujahrskonzertmusik stellt die Titelfigur gleichsam seelennackt aus. Statt plakativer Schockmomente setzen Regisseur und Choreograph auf wirklich unter die Haut gehende Bilder.
Die Dezenz der Mittel erweckt dennoch eine enorme Drastik der Wirkung. So auch im szenisch sonst stets heiklen Autodafé. Die Ketzerverbrennung durch die seinerzeit allmächtige katholische Kirche wird ganz einfach als maximal demütigende Ausgrenzung einer Minderheit durch die Mehrheitsgesellschaft dargestellt: Den „Ketzern“ wird nacheinander jener rote Handschuh der rechten Hand abgezogen, der dem gesamten Kollektiv dessen Handlungsmacht und Zugehörigkeit zum großen Ganzen versprach. Stattdessen ist den Erniedrigten nun ein brandmarkendes rotes Kreuz auf den Rücken gemalt.

Derlei symbolische Zeichen öffnen dem Publikum eigene Assoziationsräume. Denn viele szenische Chiffren dienen als ein Angebot, die Traumata des Don Carlos selbst zu erforschen. Momente des Rätselhaften bleiben. Gerade auch in der Beschwörung archetypischer Konstellationen: Begegnet Élisabeth im riesenhaften Reifrock am Ende ihrem Carlos als Inkarnation der Großen Mutter, die ihn in den Himmel ruft?
Die Chiaroscuro-Dialektik veranschaulicht trefflich die im Werk thematisierte Spannung zwischen düsterem Mittelalter und die Sinne erhellender Aufklärung
Das Bühnenbild legt jedenfalls die Idee der ständigen Verwandlung nahe. Variable weiße Lichtstelen konfigurieren den ansonsten einheitsschwarzen düsteren Bühnenraum, dessen Hänger und Wände Figuren, Chöre und Requisiten magisch erscheinen und wieder verschwinden lassen. So wird nicht nur theaterpraktisch der schnelle Wechsel zwischen den diversen Innen- und Außenräumen ermöglicht, die genialisch fließende Anordnung lässt die bei Verdi angelegten multiplen und an sich statischen Tableaux zum Gesamtkunstwerk verschmelzen. Die Chiaro-Scuro-Dialektik veranschaulicht zudem trefflich die im Werk thematisierte Spannung zwischen düsterem Mittalter und die Sinne erhellender Aufklärung.

Last not least: Die von Ausstattungspomp freie Bühne fokussiert unsere ungeteilte Aufmerksamkeit auf die Feinarbeit der Figurenführung, auf die sich der Regisseur exzellent versteht. Andeka Gorrotxategi gibt den Infanten im Wahn mit intensivem Tenor am Anschlag, Oleksandr Kharlamov seinen Vater Philipp II. mit den durchaus auch verletzlichen Kopfstimmenresonanzen seines Basses, Germán Enrique Alcántara den Marquis Posa mit edelstem Kavaliersbariton und der schönsten Stimme des Abends, Baopeng Wang den Großinquisitor mit einschüchternder Bassmacht.
Leah Gordon als Élisabeth mit intensiv strahlendem Sopran und Tatia Jibladze als Konkurrentin Eboli mit erotisch aufregend herbem Mezzo führt der Regisseur klug als parallele Frauenfiguren. Daniel Carlberg am Pult des Philharmonischen Orchesters Kiel findet in den Begegnungen der jungen Liebenden zu schillernden Massenet-Momenten, setzt ansonsten auf pralle Dramatik, der ein Mehr an französischer Eleganz und Noblesse in den Folgevorstellungen zu wünschen wäre.
Theater Kiel
Verdi: Don Carlos
Daniel Carlberg (Leitung), Immo Karaman (Regie & Bühne), Fabian Posca (Choreografie & Kostüme), Gerald Krammer (Chor), Ulrich Frey (Dramaturgie), Oleksandr Kharlamov, Andeka Gorrotxategi, Germán Enrique Alcántara, Leah Gordon, Tatia Jibladze, Sujin Choi, Baopeng Wang, Matteo Maria Ferretti, Konrad Furian, Sujin Choi, Opernchor und Extrachor des Theater Kiel, Philharmonisches Orchester Kiel
Mi., 09. April 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
Verdi: Don Carlos
Oleksandr Kharlamov (Philippe II.), Andeka Gorrotxategi/Tigran Hakobyan (Don Carlos), Germán Enrique Alcántara/Christian Federici (Rodrigue), Leah Gordon/Dara Hobbs (Élisabeth de Valois), Tatia Jibladze (La Princesse Éboli), Daniel Carlberg (Leitung), Immo Karaman (Regie)
Do., 17. April 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
Verdi: Don Carlos
Oleksandr Kharlamov (Philippe II.), Andeka Gorrotxategi/Tigran Hakobyan (Don Carlos), Germán Enrique Alcántara/Christian Federici (Rodrigue), Leah Gordon/Dara Hobbs (Élisabeth de Valois), Tatia Jibladze (La Princesse Éboli), Daniel Carlberg (Leitung), Immo Karaman (Regie)
Sa., 26. April 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
Verdi: Don Carlos
Oleksandr Kharlamov (Philippe II.), Andeka Gorrotxategi/Tigran Hakobyan (Don Carlos), Germán Enrique Alcántara/Christian Federici (Rodrigue), Leah Gordon/Dara Hobbs (Élisabeth de Valois), Tatia Jibladze (La Princesse Éboli), Daniel Carlberg (Leitung), Immo Karaman (Regie)
So., 04. Mai 2025 17:00 Uhr
Musiktheater
Verdi: Don Carlos
Oleksandr Kharlamov (Philippe II.), Andeka Gorrotxategi/Tigran Hakobyan (Don Carlos), Germán Enrique Alcántara/Christian Federici (Rodrigue), Leah Gordon/Dara Hobbs (Élisabeth de Valois), Tatia Jibladze (La Princesse Éboli), Daniel Carlberg (Leitung), Immo Karaman (Regie)
Fr., 09. Mai 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
Verdi: Don Carlos
Oleksandr Kharlamov (Philippe II.), Andeka Gorrotxategi/Tigran Hakobyan (Don Carlos), Germán Enrique Alcántara/Christian Federici (Rodrigue), Leah Gordon/Dara Hobbs (Élisabeth de Valois), Tatia Jibladze (La Princesse Éboli), Daniel Carlberg (Leitung), Immo Karaman (Regie)