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Opern-Kritik: Theater Lübeck – Die Passagierin

Der Wert musikalischer Erinnerungskultur

(Lübeck, 12.10.2024) Am Theater Lübeck inszeniert Bernd Reiner Krieger „Die Passagierin“ aufwendig, aber dem ernsten Sujet des Werks angemessen. Die Produktion überzeugt vor allem aufgrund der Hauptdarsteller in hohem Maße.

vonPatrick Erb,

München, Mainz, jetzt Lübeck – Weimar oder Krefeld werden folgen: Es sind Zeiten, in denen rechtskonservative Strömungen dafür sorgen, dass die gemäßigten Akteure der politischen Mitte durch angeregte Parteiverbotsverfahren der AfD oder mit Sätzen wie „Nie wieder“ nach Selbstvergewisserung ringen. Für die Theatermacher der Bundesrepublik bietet da Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ das entsprechende Format der Anteilnahme. Denn 1968 vollendet und 2010 szenisch erstmals bei den Bregenzer Festspielen zu erleben, mehren sich neuerdings die Häuser, die das Stück in ihre Programme aufnehmen.

Szenenbild aus „Die Passagierin“
Szenenbild aus „Die Passagierin“

Weinberg selbst durchlebte das „Nie wieder“, jenes dunkelste Kapital der deutschen Geschichte – beinahe seine gesamte Familie ermordeten die Nationalsozialisten in Konzentrationslagern. In der „Passagierin“ nach dem gleichnamigen autobiographischen Roman der polnischen Schriftstellerin Zofia Posmysz verarbeitet Weinberg ihr und teilweise auch sein Schicksal auf eine nachdenkliche und ästhetisch beeindruckende Weise, aber keineswegs vorwurfsvoll. Doch die Frage an das Stück muss immer sein: Wie geht man mit dieser Oper um, damit sie eben nicht zum theatralen Bekenntnisklatschen gerät. „Die Passagierin“ darf nicht ästhetischer Selbstzweck sein – kein Werk, das man nur aufgrund des bedeutungsvollen Themas aufführt und nicht aufgrund der grandiosen Musik.

Den Kern der Handlung treffende Inszenierung

Regisseur Bernd Reiner Krieger und Bühnenbilder Hans Kudlichs geben dem Werk am Theater Lübeck einen überzeugenden Rahmen. Das Bühnenbild zeigt zunächst den Bug eines Schiffes, dessen expressionistische Formensprache mit spitzwinkliger Reling und Treppenaufgängen zwar unwirklich wirkt, das Schiff als solches ist dennoch klar gegenständlich. Der Clou ist die perspektivische Vertauschung der Wahrnehmung. Das Geschehen im „Jetzt“ – Lisa und Walther entdecken die Passagierin Marta, Interaktionen des Schiffspersonals und schließlich auch der Epilog des Gedenkens von Marta – wird durch einen durchscheinenden Verdunkelungsvorhang verfremdet.

Szenenbild aus „Die Passagierin“
Szenenbild aus „Die Passagierin“

Klar sind dagegen die Erinnerungen Lisas. In zwei Sektionen unter dem Schiffsbug und im vorderen Bereich der Bühne befinden sich Hof und Mädchenbaracke von Auschwitz. Dort sind das Leid der Gefangenen und die Verbrechen der Täter für das Publikum greifbar, mitfühlbar. Diese drei Bühnenelemente wechseln entsprechend der acht Szenen der Oper durch, vermischen sich auch gegen Ende, wenn für die Chaconne von Tadeusz nicht nur die KZ-Aufseher, sondern in der Ferne auch die Gäste des Schiffs Anteil nehmen.

Lübecker Philharmonisches Orchester porträtiert Weinbergs Musik gekonnt facettenreich

Nicht nur die Handlung ist in einem stetigen Wechsel aus Rückblende und Echtzeit, nein, Weinbergs Musik zu „Die Passagierin“ selbst ist fluide und multiperspektivisch. Dem Philharmonischen Orchester Lübeck unter ihrem ersten Kapellmeister Takahiro Nagasaki gelingt größtenteils eine dynamisch ausgewogene und charakterreiche Klangarchitektur. Nagasaki porträtiert die stille Einsamkeit der Inhaftierten wie die brachiale Lautstärke des Lageralltags, ohne dabei einzelne Nummern zur comichaften Persiflage verkommen zu lassen. Aber dennoch: Jazzige Lässigkeit auf dem Schiff, volkstümliche Tanzrhythmik zur Illustration der Arbeit oder Gebete der Frauen in ihren Käfigen – Weinbergs zitatreiche Vielfalt kommt und verschwindet subtil. Hier ist noch mehr Potenzial, die einzelnen musikalischen Facetten auszudeuten. Die Lichtregie am Abend greift diese schnellen Wechsel sogar teilweise auf. Schließlich schreit die Chaconne – jenes bewegende Stück Johann Sebastian Bachs, das Tadeusz entgegen des Lieblingswalzers des Lagerkommandanten spielt – nach einer in extremen Maß gravitätischen und überrhythmisierten Interpretation. Hier wäre weniger Tempo mehr Ausdruck.

Szenenbild aus „Die Passagierin“
Szenenbild aus „Die Passagierin“

Spezialisierte Darsteller auf hohem Niveau

Den brauchen die Hauptdarsteller am Abend mitnichten. Konstantinos Klironomos gibt den westdeutschen Diplomaten Walter perfekt artikuliert mit einer imposanten, beinahe dem Verdischen Heldentenor nacheifernden Lautstärke. Schade, dass Weinberg der Rolle vergleichsweise wenig Zeit einräumt. Marlene Lichtenberg geht allerdings weit darüber hinaus. Sie beweist zu ihrem ähnlich betont in Szene gesetzten Mezzosopran auch großes Rollenverständnis, denn sie spielt zwei Rollen gleichzeitig: Lisa als von ihrem Handeln überzeugte KZ-Aufseherin und Lisa als eine im Angesicht von Marta in die Ecke gedrängte, beinahe reuige Sünderin auf dem Schiff. Spiel und Gesang sind in beispiellosem Einklang, Textverständnis wird nie vernachlässigt.

Szenenbild aus „Die Passagierin“
Szenenbild aus „Die Passagierin“

Adrienn Miksch als Darstellerin der Marta glänzt auf anderem Weg in höchstem Maß. Schauspielerisch nahekommend, aber nicht auf gleichem Niveau Lichtenbergs, singt die Sopranistin vor allem ausdifferenziert. Ob liebevolle Szene mit Tadeusz oder Solidarisierung mit anderen Häftlingen: Ihre Charaktere reichen von kühler Ablehnung oder Verachtung – allen voran gegenüber Lisa –, bis zur entwaffnenden Wärme. Ihr Vortrag des Gedichts von Sándor Petőfi, in welchem Marta sich über den potentiellen Tod hinaus zur Freiheit bekennt, beeindruckt auf beispiellosem Niveau. Dieser Wunsch nach Freiheit kommt auch im außerordentlich guten, weil in den Freiheitskampf miteinbezogenen, Frauenchor des Theater Lübeck zur Geltung.

Dem Haus gelingt somit eine durch erzählerische Ernsthaftigkeit, sängerisches Spitzenpersonal und mit aufwendigem Bühnenbild überzeugende Inszenierung zu „Die Passagierin“. Offen bleibt jedoch, bei allen zu Recht geäußerten Bravobekundungen, die Frage nach der Intention, nach dem „warum jetzt“. Vielleicht kann diese Frage auch nur offenbleiben.

Theater Lübeck
Weinberg: Die Passagierin

Takahiro Nagasaki (Leitung), Bernd Reiner Krieger (Regie), Hans Kudlich (Bühne), Ingrid Leibezeder (Kostüme), Jan-Michael Krüger (Chor), Heiner Kock (Choreografie), Falk Hampel (Licht), Jens Ponath & Sören Sarbeck (Dramaturgie), Marlene Lichtenberg, Konstantinos Klironomos, Adrienn Mikesch, Jacob Scharfmann, Natalia Willot, Frederike Schulten, Aditi Smeets, Delia Bacher, Elizaveta Rumiantseva, Chor & Extrachor des Theater Lübeck, Statisterie des Theater Lübeck, Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck






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