An Goethes epochalem „Faust“, dem wohl berühmtesten Aushängeschild der deutschsprachigen Dichtkunst, haben sich über Jahrhunderte viele Musikschaffende die Zähne ausgebissen. Charles Gounod war einer der wenigen, dem es gelang, mit seiner großangelegten Vertonung des monumentalen Stoffes dauerhaften Erfolg zu verzeichnen, wobei er den Fokus, ein wenig anders als Goethe, vom namensgebenden Protagonisten weg führte und stattdessen auf dessen ambivalente Beziehung zur armen Margarethe legte. Aufgrund dieser Abweichung betitelte man das Stück in Deutschland wiederum mitunter als „Margarethe“.
Leuchtende orchestrale Farbvielfalt
Noch heute ist das Werk – unter welchem Titel auch immer – ein Dauerbrenner auf den internationalen Opernbühnen. Dafür ist es aber auch fast das einzige Werk des Komponisten, dass, zumindest hierzulande, kanonische Bekanntheit genießt (abgesehen von gelegentlichen, aber bei Weitem selteneren „Roméo et Juliette“-Inszenierungen und natürlich von seiner Studienarbeit „Méditation sur le premier Prélude de J. S. Bach“, eines der heute wohl berühmtesten Klassikwerke überhaupt). Das mag verwundern, angesichts der leuchtenden Farbvielfalt, die in seiner Musik steckt und die das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck am Premierenabend über gut drei Stunden zum Leuchten bringt.
Satt und voll erschallt schon der erste schicksalsschwere Ton der Ouvertüre, Dirigent Takahiro Nagasaki entlockt seinen Musikerinnen und Musikern immer wieder eindrucksvolle, donnergleiche Lautstärken und brilliert vor allem in den sakralen Momenten, den anrührenden Chorälen und Gebeten mit innigster Heiligkeit – dass Charles Gounod vornehmlich Kirchenmusiker war, ist auch in seinem „Faust“ deutlich zu vernehmen. Gerade in jenen Momenten hat natürlich auch der Chor, der aus einer Meute abgerissener, entdisziplinierter Frontschwein-Soldatinnen und -Soldaten besteht, entscheidenden Anteil daran. So herrlich wüst, trunk-, genuss- und wollüstig sich der halbuniformierte Haufen in seinen Choreografien benimmt, so rein und klar ist seine stimmliche Präsenz.
Klar, doch nicht karg
Klar und einfach ist auch die Kostümierung von Camilla Bjørn – Faust ist in schwarz, Marguerite in weiß gekleidet. Ebenso einfach, aber keinesfalls karg ist das Bühnenbild, das einerseits den gesamten Bühnenraum geschickt ausnutzt, sich dabei andererseits auf das Wesentliche beschränkt: Spartanisch und düster zeigt sich das Heim des verzweifelten Dr. Faust, eine kahle, mit kalten Neonröhren und Schanktresen ausgestattete Kasernenhalle ist Schauplatz zügelloser Gelage, das bescheidene Schlafgemach der unschuldigen Marguerite ist weiß möbliert. Trist und ernüchternd ist das finstere Frauengefängnis, aus dem heraus Marguerite, zart, zerbrechlich und klar gesungen von Evmorfia Metaxaki, im güldenen Schlussbild ihre seelische Errettung ersehnt.
Der Teuflische besticht mit schwer-schwefeliger Stimme
Gesetzt den Fall, dass eine Inszenierung des Faust-Stoffes (in welcher theatralen Form auch immer) stets mit der Performance des Mephistopheles steht oder fällt, so braucht Lübeck sich jedenfalls nicht zu verstecken. Mit beeindruckender Statur und schwer-schwefeliger Stimme gibt der färöische Bass Rúni Brattaberg den Teuflischen. Gehüllt in einen dekorationslosen, beigefarbenen Offiziersanzug, vereinnahmt er nicht nur die lenkbaren Massen auf der Bühne mit aufdringlichem, ungekünsteltem Charme und satanischer Überzeugungskraft, sondern auch das Publikum. Dafür durchbricht er auch mal die vierte Wand.
Ihm zur Seite steht – als kleines inszenatorisches Extra – Samantha Höfer als teuflisches, stummes, aber wirkungsstarkes Helferlein. Hervor stach auch Bariton Jacob Scharfman, dem man die Rolle des ernsthaften, tapferen, besorgten und frommen Soldaten Valentin zu einhundert Prozent abnimmt. Tenor Arthur Espiritu in der Titelrolle des Faust begann etwas zögerlich und nahm vor allem zum Ende hin mehr Fahrt auf, ihm schien vor allem die französische Sprache nicht richtig zu liegen.
Ohne Schnickschnack
Insgesamt funktioniert die Inszenierung von Regisseur Kasper Wilton recht gut, sie ist schlüssig und klar, verzichtet auf unnötige Metaebenen, unverständliche Symbolik oder visuelle Überfrachtung. Doch trotz einer gezeigten operativen Fehlgeburt, trotz orgiastischer Ekstasen und der Offenlegung der Doppelmoral, in der eine kriegstreiberische, vergnügungssüchtige Gesellschaft die arme Marguerite moralisch verurteilt, provoziert sie nicht wirklich. Aber das muss sie gar nicht, denn sie langweilt auch nicht und macht Spaß. Es ist eine Inszenierung, die das Rad nicht neu erfindet, aber ohne viel Schnickschnack auskommt, die nah am Stoff bleibt und gut durchdachte Bilder mit großartiger Musik zeigt.
Theater Lübeck
Gounod: Faust
Takahiro Nagasaki (Leitung), Kasper Wilton (Regie), Camilla Bjørnvad (Bühne & Kostüme), Ulla Benninghoven (Choreografie), Jan-Michael Krüger (Chor), Falk Hampel (Licht), Arthur Espiritu, Evmorfia Metaxaki, Rúni Brattaberg, Jacob Scharfman, Laila Salome Fischer, Edna Prochnik, Changjun Lee, Samantha Höfer, Chor und Extrachor des Theater Lübeck, Statisterie des Theater Lübeck, Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck