Bevor sie ihrem Nachfolger Julien Chavaz ein perfekt laufendes Mehrspartenhaus übergibt, bringt Generalintendantin Karen Stone in der Spielzeit 2021/22 das Theater Magdeburg noch einmal zum Dauerleuchten. Im Winter präsentiert sie mit der Fontane-Vertonung „Grete Minde“ von Eugen Engel eine Uraufführung und mit der Oper „Figaro lässt sich scheiden“ von Elena Langer eine europäische Erstaufführung. Erst kam Christian von Götz‘ mit seiner Sicht auf einen weiblichen „Rigoletto“, der die zerstörerische Beziehung eines Helikopter-Elternteils zur weltfremden erwachsenen Tochter noch schärfer anprangert. Jetzt widmete sich Karen Stone selbst Verdis letzter Oper „Falstaff“. Bei ihr spielt diese in einem vorgerückten schräg bunten 20. Jahrhundert. GMD Anna Skryleva eskortiert dazu mit einem Verdi, der bei exponierten Konturen größere Meriten zeigt als im feinen erotischen oder leichtfüßigem Schweben der 1893 an der Mailänder Scala uraufgeführten „Charakterisierungskomödie“.
Seitensprung-Ambitionen bei stabiler Wohlanständigkeit
Die Location „Zum Hosenband“ verfügt über eine kleine Showbühne mit Lichtbogen, wo sich der keineswegs zum alten Eisen gehörende Star Falstaff für künftige Auftritte, aber auch gegen die Altersarmut wappnet. Wann genau das zwischen 1970 und 1990 spielt, ist im Kostüm-Mix nicht auszumachen. Die Männer der lustigen Weiber von Windsor und Falstaffs Entertainment-Duo Bardolfo & Pistola sind recht dumpfe Zeitgenossen. Sogar der junge Fenton leidet an notorischer Schwunglosigkeit – Benjamin Lee rafft sich sogar in Verdis schönster und erstaunlicherweise nie zum Wunschkonzerthit gewordenen Romanze nur widerwillig zum Schwelgen auf. Auch die pikante Nannetta Ford (Hyejin Lee)hat weniger Hormonhummeln im Leib als ihre zwei Nachbarschaftstanten: Die adrette Meg Page (Partien-Veredelung durch Emilie Renard) und die jeden Satz als kokette Flocke reißende Mrs. Quickly (stimmlich-szenischer Spielmotor: Jadwiga Postrożna) sekundieren Nannettas Mutter Alice. Diese spiegelt in perfekter Exaltation die besten Modemagazin-Empfehlungen. Als Spaßhyäne weiß Alice, dass die besten Jahre auf der Altersskala inzwischen dort sind, wo früher Menopause und Andropause das Psycho-Barometer fallenließen. Noa Danon singt „Magic Alice“ mit der schönen Kraft einer Frau in den besten Jahren und Schneewittchen-Komplex. Das besagt vor allem, dass eine Mutter sich immer bombiger aufbrezelt, desto heftiger die hübsche Tochter Blicke wirft und auf sich zieht. Die neuen Dreißiger treiben es also viel ausgetrickster als die Jungen, zumal beim Heucheln von Seitensprung-Ambitionen neben stabiler Wohlanständigkeit.
Elvis auf der Kippklappcouch
Danon trägt als Kabinett-Gespielin Falstaffs entschieden dazu bei, dass Balzszenen kleine Showstops und Spiel im Spiel sind. Boulevard-Effekte mit Drehsessel und Kippklappcouch werden mit leichter Hand desavouiert. Ulrich Schulz ergötzt sich in seiner Ausstattung am ekstatischen Pink-Orange-Yellow-Farbtopf des psychedelischen Mainstreams. Falstaff erscheint zur Flirtoffensive im himmelblauen Elvis-Overall. Die vom Alkoholgenuss geröteten Nasen seines Showduos sieht man nur ein bisschen: Timothy Oliver wirkt leicht verkommen, und Johannes Stermann hat seinem Chef genau abgeschaut, wie man mit Hirschgeweih und eng anliegenden Netzshirt bei Park- und Party-Nymphen reüssiert.
Heiterkeit und Sterblichkeit
Und doch: Leicht melancholisch gerät der Verkleidungszauber des mit einem gewissen Wohlstand gesegneten Mittelstands, wenn grobkörnige Grünprojektionen zum Schauplatz des inszenierten Spuks werden. Den Alten dräuen aus dem kleinen Chor die Masken skelettierter Gesichter entgegen. Diese rufen zu Heiterkeit und gemahnen an Sterblichkeit. Was soll’s? Frauen und Männer von Windsor erleben reizarmes Herummachen als Prickeln und wollen das Beständige. Demzufolge kapriziert sich Vater Ford nach satt gesungenem Sinnkrisen-Lamento auf einen Schwiegersohn, der ihm vom Blondhaar bis zur Brille gleicht wie der trotz Vokalpracht leer ausgehende Doktor Cajus (Stephen Chaundy).
Charme, Tiefgang, Jukebox-Klänge
Stefano Rabaglias reduzierte Orchester-Fassung stört nicht bei den tausenden melodischen und harmonischen Mikroprozessen, mit denen Verdi die von Arrigo Boito aus den Shakespeare-Stücken „Die lustigen Weiber von Windsor“ und „Heinrich IV.“ ins Italienische übernommenen Wortkapriolen durchzog. Anna Skryleva leitet klar und deutlich durch die Partitur. Bemerkenswert nüchtern bleibt sie bei Verdis Zaubereien für die Jungen Nannetta und Fenton, wo Sex und Poesie so verwoben sind wie selten in der Oper. Es liegt nicht nur am stellenweise recht lauten Überschwang der Magdeburgischen Philharmonie, das Verdis Reminiszenzen an frühere Kompositionsmuster in wenig listigen Klangbrechungen auftauchen. Die berühmte Schlussfuge wird im nach Abstandsregelung besetzten Zuschauerraum zum Höhepunkt. Immer grandioser wächst an diesem Abend der wunderbar in die lyrische Komödie passende Stephanos Tsirakoglou als Sir John Falstaff. Schon nach den ersten zehn Minuten fetzt er seinen imposanten Ehre-Monolog. In jeder seiner von Verdi mit leichter Hand gestreuten Kurz-Kanzonen gewinnt Tsirakoglou an Charme und Tiefgang. Mit der Stimme flirtet er zu Jukebox-Klängen und erscheint beim Date mit knallrotem Akkordeon. Sorgfältig geliert Falstaff seine geschwärzte Locke auf die Stirn. Überdies hält Chubbybär Falstaff von Stretchwesten mehr als von Schlankheitsfarmen. Das bestätigt die neuesten Soziotrends: Der Star in Karen Stones Magdeburger Inszenierung ist kein Auslaufmodell, sondern hat eine wunderbare Zukunft – erst recht, wenn die Maskenzwänge im Park von Windsor und im echten Leben endlich vorbei sind.
Theater Magdeburg
Verdi: Falstaff
GMD Anna Skryleva (Leitung), Karen Stone (Regie), Ulrich Schulz (Bühne & Kostüme), Ulrike Schröder (Dramaturgie), Philipp Schweizer & Martin Wagner (Chor), Stephanos Tsirakoglou (Sir John Falstaff), Mrs. Alice Ford (Noa Danon), Marko Pantelić (Ford), Jadwiga Postrożna (Mrs. Quickly), Hyejin Lee (Nannetta), Benjamin Lee (Fenton), Timothy Oliver (Bardolfo), Johannes Stermann (Pistola), Emilie Renard/ Karina Repova (Mrs. Meg Page), Stephen Chaundy (Dr. Cajus), Opernchor des Theater Magdeburg, Statisterie, Magdeburgische Philharmonie