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Opern-Kritik: Theater Magdeburg – Fidelio

Buntheit, Blindheit, Blödheit der Massen

(Magdeburg, 4.5.2024) Bis zum Florestan-Monolog ist Ilaria Lanzinos Lesart von Beethovens „Fidelio“, die sich um Klimakrise und Kaufrausch dreht, stimmig und spannend. Doch dann greift sie zu einem ihrer politischen Klarsicht geschuldeten Notlösungsjoker nach dem anderen.

vonRoland H. Dippel,

Die Musiktheater-Regisseurin Ilaria Lanzino arbeitet zielstrebig an ihrem Image einer Dokumentar-Regisseurin zu brennenden Zeitthemen. Im „Liebestrank“ des Staatstheaters Nürnberg karikierte sie die Verblödung durch digitale Traumorte und Kontaktanbahnungen über Social Media. Aus „Luc(i)a di Lammermoor“ machte sie eine an der Feindlichkeit des Umfelds scheiternde schwule Liebesgeschichte. Zur Inszenierung von Ludwig van Beethovens einziger Oper „Fidelio“ in der Fassung von 1814 für das Theater Magdeburg geht es Lanzino im Opernhaus Magdeburg jetzt weit mehr um die Ignoranz der reichen Länder gegen die Opfer des Klimawandels als um die Verherrlichung einer Freiheitsidee, die Beethoven an einem um 1800 sehr modischen Stoff festmachte. Lanzino interessiert sich nur am Rand für die emotional erschütternde Befreiungstat einer Frau, die ihren Mann – verkleidet als Mann – aus der willkürlichen Kerkerhaft und der Ermordung durch seinen politischen Gegner rettet.

Szenenbild aus „Fidelio“ am Theater Magdeburg
Szenenbild aus „Fidelio“ am Theater Magdeburg

Die Impulse zwischen Musik und Szene springen im Magdeburger „Fidelio“ eher kantig

An der Handlungsführung der von Beethoven in Wien für insgesamt drei Fassungen auf Trab gehaltenen Librettisten Joseph Sonnleithner, Stephan von Breuning und Georg Friedrich Treitschke ändert sich dadurch wenig. Die Impulse zwischen Musik und Szene springen eher kantig. Die Struktur ist deutlich, und trotzdem entfaltet sich das menschliche Drama wie in einem Laboratorium, weil es durch Lanzinos Soziogramm von der Haupt- zur Nebensache wird. Sie modelliert eine brisante Bühnenstudie über kollektives Verdrängen. Dieses Konzepttheater bremst Beethovens im langen Jubelschluss des zweiten Finales gesetzte Utopie kräftig aus.

Szenenbild aus „Fidelio“ am Theater Magdeburg
Szenenbild aus „Fidelio“ am Theater Magdeburg

„Oh welche (Kauf-)Lust…“

Dabei verstehen sich GMD Anna Skryleva und Lanzino supergut beim Parallelausbau der äußeren Spannungskurve und musikalischen Architektur. Skryleva entwickelt mit der Magdeburgischen Philharmonie bei gleichbleibender Fülle und Dichte des Wohllauts einen satten orchestralen Bogen vom Beginn im kleinkarierten Spießer-Milieu Richtung Bewusstsein, Katastrophe und strahlende Apotheose. Weil die für Fidelio-Leonore schwärmende Marzelline, der das Fernsehen mehr als seine Marzelline liebende Jaquino sowie der geschniegelt flotte wie bornierte Rocco eher dreidimensionale Comicfiguren als Menschen sind, entsteht zwischen Musik und Spiel ein atmosphärisches Vakuum. So gut wie alle Dialoge und sogar einige Sätze des genial düsteren Melodrams im Kerkerbild sind gestrichen.

Szenenbild aus „Fidelio“ am Theater Magdeburg
Szenenbild aus „Fidelio“ am Theater Magdeburg

„Die Welt brennt“

Martin Hickmann baute ein bunt-biederes Eigenheim-Interieur, in das man wie von oben auf Doppelbett und Wohncouch mit PC-Tisch blickt. Passanten mit Einkaufstaschen und Augenbinden, also blind für die von ihnen durch Konsum beschleunigten Katastrophen, irren zur vierten von Beethovens Leonore- und Fidelio-Ouvertüren über die Bühne. „Die Welt brennt“ steht auf dem Transparent, das Leonore und Florestan schon da als Wissenschaftler in die Menge tragen. Pizarro, der sehr deutlich und mit fast tenoraler Höhe stark agierende Morten Frank Larsen, ist zwar gefährlich und ein bisschen mephistophelisch, aber neben den sozialen Auswirkungen des Klimawandels das weitaus geringere Übel. Statt der Gefangenen in den Gefängnishof dringen verdreckte, gebranntmarkte Klimaflüchtlinge in die smarte Idylle und stören diese logischerweise empfindlich. Der Gefangene Florestan (Tilmann Unger ist ein Tenor-Prachtkerl mit kräftigen und sicheren Höhen) darbt, schmachtet, träumt in einer Souterrain-Mülldeponie.

Szenenbild aus „Fidelio“ am Theater Magdeburg
Szenenbild aus „Fidelio“ am Theater Magdeburg

Wo bleibt der „Fidelio“-Krisenpunkt?

Bis zum Florestan-Monolog ist Lanzinos Lesart stringent, stimmig und spannend. Doch ab da greift sie zu einem ihrer politischen Klarsicht geschuldeten Notlösungsjoker nach dem anderen. Der Retter Don Fernando wird mit Blumenkrone, Wallehaar und weißem Mantel zum edlen Greis, den Giorgi Mtchedlishvili nicht balsamisch genug singen kann. Beethovens Piano-Mysterium „Oh Gott, welch ein Augenblick“ zieht beiläufig vorbei. Dann folgt zum Jubelschluss „Wer ein holdes Weib errungen“ ein ausgelassen-naives Tanzen. Die angekündigte Auseinandersetzung mit dem „Fidelio“-Krisenpunkt, dass eine Frau „nur“ in Männerkleidern etwas bewirken könne, ereignet sich eher beiläufig.

Szenenbild aus „Fidelio“ am Theater Magdeburg
Szenenbild aus „Fidelio“ am Theater Magdeburg

Kein Krisenbewusstsein

Die Ansätze zur Verortung des in seiner Wirkungsgeschichte immer mehr mit Freiheitsethos überfluteten „Fidelio“ in einem topaktuellen Umfeld sind richtig. Nur kommen die Gestalten aus ihrer Figurenhaut nur schwer in den für diese Oper so wichtigen Impuls-Flow. Vanessa Rusts Kostüme und Knallfarben panzern die Figuren und schirmen sie voneinander ab. Als Marzelline wird Na’ama Shulman vorsätzlich zur Knallcharge mit Dauerlächeln. Desgleichen wirkt Adrian Domarecki als Jaquino nett und etwas unterbelichtet. Johannes Stermann als Rocco wirft starke, runde Töne ins Auditorium, fast zu starke für den schwachen Charakter. Die emotionale Tiefendimension des Quartetts „Mir ist so wunderbar“ traut man solchen Figuren einfach nicht zu, auch wenn Leonore eifrigst in Aktenordnern blättert.

Szenenbild aus „Fidelio“ am Theater Magdeburg
Szenenbild aus „Fidelio“ am Theater Magdeburg

Höhere Karriereebene für Raffaela Lintl

Dafür singt sich Raffaela Lintl, die international gefeierte „Grete Minde“ in der posthumen Uraufführung von Eugen Engels Fontane-Oper, als Leonore mit hohem Können und tadelloser Sicherheit auf die nächste Karriereebene. Im Partien-Herzstück, ihrer großen Arie, wird Lintl tatsächlich zum Mittelpunkt der Szene. Aber der dramatische Höhepunkt, wenn sich Fidelio-Leonore zum Schutz mit gezogenem Revolver vor Florestan wirft, wirkt als Coup de théâtre angestrengt, weil Pizarro mit weißem Gesicht und Glatze nicht aus der Kollektion der Kostümkarikaturen herausragt. Was allerdings stark, aber unhörbar gerät, ist das Drama der lautlosen Kassandra-Rufe, mit denen Florestan und Leonore bei den von Martin Wagner klangschön vorbereiteten Chormassen wenig bis nichts ausrichten. Beethoven hatte sich entschlossen, mit einem etwas erzwungenen Schluss das für die Jahre nach der Französischen Revolution extrem brisante Drama zu beenden, in Lanzinos Gegenwartspanorama kommt es dagegen nach ihrem kritischen Regie-Schlussakkord erst richtig in Fahrt. Großer Applaus.

Theater Magdeburg
Beethoven: Fidelio

GMD Anna Skryleva (Leitung), Ilaria Lanzino (Regie), Martin Hickmann (Bühne, Sounddesign & Video), Vanessa Rust (Kostüme), Sarah Ströbele (Dramaturgie), Martin Wagner (Chor), Giorgi Mtchedlishvili, Morten Frank Larsen, Tilmann Unger, Raffaela Lintl, Johannes Stermann, Na’ama Shulman, Adrian Domarecki

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