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Opern-Kritik: Theater Münster – Königskinder

Märchenjuwel aus Härte und Liebe

(Münster, 16.10.2024) Engelbert Humperdincks „Königskinder“ erweist sich als wunderbares Mittel wider die Zeitphänomene der digitalen Entfremdung – und für den wichtigen Glauben an das Gute.

vonRoland H. Dippel,

Noch nicht allzu häufig, aber doch regelmäßig erinnern sich Theater inzwischen wieder an Engelbert Humperdincks neben „Hänsel und Gretel“ zweiten großen Märchenopern-Erfolg „Königskinder“. Das Experiment eines Melodrams mit in den Noten fixierten Tonhöhen erwies sich im Münchner Nationaltheater 1897 als zu ungewöhnlicher Brocken, die an der Met 1910 uraufgeführte Umgestaltung zum Musikdrama mit drei bis vier Traumpartien verschwand in Nazi-Deutschland 1943 aufgrund der jüdischen Textdichterin Elsa Bernstein-Porges von den Bühnen. Bei Produktionen in Zürich (mit Jonas Kaufmann), Dresden, Frankfurt am Main (mit Daniel Behle) und Erl gab es immer helle Begeisterung über die Musik und die emotionale Bewegtheit der Handlung. So auch am Theater Münster bei der ersten Reprise nach der Premiere.

Szenenbild aus „Königskinder“ am Theater Münster
Szenenbild aus „Königskinder“ am Theater Münster

Unzählbare Klangschönheiten

Kapellmeister Henning Ehlert, der sich das Stück ausdrücklich gewünscht hatte, fand mit Nachdruck und Kraft zu den unzählbaren Klangschönheiten Humperdincks. Das Sinfonieorchester Münster lieferte in der ausgewogenen Akustik des Großen Hauses einen himmelhoch jauchzenden und zu Tode betrübenden Klangrausch. Humperdincks Partitur ist durchwebt von detaillierten Instrumentalgesten. Man hört die Schellen der Rosse, die Sonnenstrahlen durch das Blätterdach der Linde, in der Partie des Spielmanns echte Empathie und den affektiven Puls einer Liebe von der Entstehung bis zum Tod. Die Gänsemagd und der Königsohn überwinden mit ihren Gefühlen zueinander soziale Schranken, scheitern aber an der im primitiven Vorteilsdenken befangenen Umwelt. Deshalb gehen beide – wenigstens in enger Umarmung – zugrunde.

Szenenbild aus „Königskinder“ am Theater Münster
Szenenbild aus „Königskinder“ am Theater Münster

Abstieg: Märchen – Wohlstand – Katastrophe

Die realistischen Ansichten auf einer frühsommerlichen und einer herbstlichen Fotografie aus Wäldern des Münsterlandes, die aus einem Fotowettbewerb ausgewählt wurden, verbinden Natursehnsucht und die Preziosität des Werks. Die Regisseurin Clara Kalus, Bühnenbildner Dieter Richter und Carola Valles mit den Kostümen erarbeiteten drei Zeitebenen: Königssohn und Gänsemagd agieren in der Sphäre eines Kunstmärchens aus den eskapistischen Strömungen um 1900. Eine westdeutsche Nachkriegsgesellschaft schlemmt, protzt, prollt und stürzt sich mit raubeiniger Randalierlust auf alle, für welche solche egomanische Selbstgefälligkeit nicht des Volkes wahren Himmel bedeutet. In diesen Szenen haben Chor und Extrachor ganz große Momente von der schwangeren Frau des Besenbinders als Kinderchor-Dirigentin und als Schläger, Gendarmen, Feiermeute und wohlstandssatte Kleinbürger in Karnevalslaune. Der von Anton Tremmel super einstudierte Hauschor-Großtrupp mitsamt Extrachor-Splittergruppen und Kinderchor setzt ganz scharfe Akzente neben einer Poesie der Fertig-Hexenhütte mit Bilderbuch-Blumengarten zuerst, später mit Müllplatz und Kühlschrank-Friedhof.

Die sich von den Älteren lossagenden und mit dem Spielmann solidarisierenden Kinder sind allerdings kreuzbrav, ohne Rebellions- und Oppositionsgen. Am Ende stehen sie mit den zu Symbolen einer heilen Sehnsuchtswelt gewordenen Königskindern an den Seitengängen im Parkett. Märchenzauber als Eskapismus.

Liebe, Härte, Mitgefühl

Bernstein-Porges‘ Metaphern sind keineswegs harmloser als die in „Pelléas et Mélisande“ oder „Rusalka“. Unter den Märchenbildern brodelt es heftigst. Garrie Davislim und Anne Schoeck zeigen, wie bei Königssohn und Gänsemagd aus überwältigender Sympathie tiefe Emotionen entstehen und dazu auch der Erkenntniszuwachs durch aufgerissenen Seelenschmerz gehört.

Einen besonders eindrucksvollen Akzent setzt die Regisseurin: Offenbar haben die Hexe und der Spielmann eine mit einem scharfen Keil beendete Liebesgeschichte hinter sich. Kalus zeigt das mit Händen beider, die sich beim zaghaften Herantasten mit nur minimalem Abstand und damit für immer verfehlen. Im dritten Akt – wenn sie eigentlich bereits von den engstirnigen Hellabrunnern verbrannt wurde – schreitet die Hexe zum sehnsuchtsvollen Spielmannslied nochmals über die Bühne.

Szenenbild aus „Königskinder“ am Theater Münster
Szenenbild aus „Königskinder“ am Theater Münster

Exzellente Ensembleleistung

Wie schon am Vorabend in Offenbachs „Doktor Ox“ hört man in Münster eine exzellente Ensembleleistung. Die beiden Titelfiguren sind ideal in Stimme und Spiel. Anna Schoecks Sopran blüht schon in der Blitzentwicklung der Gänsemagd zum Erwachsenwerden und Liebeserwachen voll auf. Schoeck zeigt eine starke Persönlichkeit mit dem Wollen, alle Hindernisse zu überwinden. Mit beeindruckender Kondition nimmt Garrie Davislim sogar alle Stellen an leichterer Deklamation voll kantabel: Was für eine tolle Partie zwischen Schubert-Melos und Wagner-Glanz ist das! Als Sohn aus gutem Haus mit passender Wanderkleidung und auf Schwertspitze getragenem Reisebündel ist der Königssohn den Fallstricken schnöder Mitmenschen wie der Wirtstochter (feine Kombination von lyrisch und ordinär: Elena Sverdiolaité) schwerlich gewachsen.

Johan Hyunbong Choi als Spielmann und Wioletta Hebrowska als Hexe geben ein packendes zweites Paar. Der Regie war es wichtig, die Hexe von der bösen Diabolik, welche sie haben könnte, zu befreien. Nur einmal erscheint sie am Stock in gebückter Haltung. Ansonsten lebt sie fürsorglich wie ein prägendes Vorbild für Öko-Aussteigende. Auch vokal betont Wioletta Hebrowska die Noblesse einer lebenserfahrenen weisen Frau. Charakterfarben setzen Gregor Dalal als derber Holzhacker und Youn-Seong Shim als vom Hersteller zum Vertreter mit Sortimentskoffer aufgestiegener Besenbinder. Die Figur von dessen Töchterchen wird aufgeteilt in ein kindliches Double der Gänsemagd und eine Scharführerin der „letzten Generation“ (Elisabeth Quick). Zum Schluss langer hartnäckiger Jubel. Gegen die Zeitphänomene der digitalen Entfremdung und versachlichten Dauerdistanz sind Humperdincks Märchenoper und diese Produktion ein wunderbares Mittel – und für den wichtigen Glauben an das Gute.

Theater Münster
Humperdinck: Königskinder

Henning Ehlert (Leitung), Clara Kalus (Regie), Dieter Richter (Bühne), Carola Volles (Kostüme), Anton Tremmel (Chor), Margarete Sandhäger, Rita Stork-Herbst (Kinderchor), Giulia Fornasier (Dramaturgie), Garrie Davislim, Anna Schoeck, Johan Hyunbong Choi, Wioletta Hebrowska, Gregor Dalal, Youn-Seong Shim, Cosima Berger / Elisabeth Quick, Lars Hübel, Kihoon Yoo, Melanie Spitau / Elena Sverdiolaité, Danijel Tropcic, Soyeon Lee, Hyung Hee Park, Sven Bakin, Christina Holzinger, Opernchor des Theater Münster, Extrachor des Theater Münster, Theater Kinderchor Gymnasium Paulinum, Sinfonieorchester Münster





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