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Opern-Kritik: Theater Münster – La bohème

Liebe ist mehr als Emotionen plus Sex

(Münster, 14.12.2024) Die sängerische und orchestrale Delikatesse überstrahlt in der Premiere von Puccinis Opernhit-Selbstläufer „La bohème“ manch szenische Ungereimtheit.

vonRoland H. Dippel,

In die „La Bohème“-Parade zu #Puccini100 reiht sich nach Chemnitz, Dessau, einer Abschiedstournee der Compagnia d’Opera Italiana und den Ü50-Regieklassikern der großen Häuser auch das Theater Münster. Die Premiere von Giacomo Puccinis am 1. Februar 1896 in Turin uraufgeführtem Opernhit-Selbstläufer machte trotz rammelvoller Weihnachtsmärkte der Westfalen-Metropole ein ausverkauftes und zum Ende jubelndes Haus. Da unterliefen der Regisseurin Effi Méndez recht viele Ungereimtheiten in Puccinis Bilderbogen zu Henri Murgers Zeitungs- und Episodenroman „Szenen aus dem Pariser (Künstler-)leben“.

Verblüffend biedere und belanglose Momente gab es in Menge. Eindeutig lag das Adventsvergnügen deshalb in der sensationellen Puccini-Experience von GMD Golo Berg mit dem Sinfonieorchester Münster. Dazu gab es eine an wichtigen Positionen beglückende Besetzung mit Garrie Davislims idealem Schreibmaschinen-Poeten Rodolfo und dem Deutschland-Debüt der wunderbaren australischen Sopranistin Marlena Devoe als Mimì. Sie machten viele Ungereimtheiten vergessen und knüpften an den hohen Rang der Münsteraner Produktionen von „Königskinder“ und „Doktor Ox“ an.

Szenenbild aus Puccinis „La bohème“ am Theater Münster
Szenenbild aus Puccinis „La bohème“ am Theater Münster

Menschen im Abrisskaufhaus

„La Bohème“ in einem nach Pleiteniedergang zur autonomen Künstlerresidenz gemachten Kaufhaus der Gegenwart – warum nicht? Im Kaufhaus GIACOMO stehen auf Art-Deco-Retrotafeln auch Puccini-Opern im Angebot. Stefan Heinrichs‘ Bühne setzt unter dem Glasdach des entleerten Konsumtempels auf konkrete Möbel und Rolltreppen, aber auch viele nachhaltige Projektionen. Das dritte Bild spielt vor einem Flirt- und Fummelbunker am Autobahnzubringer – da gerät die Münsteraner „Bohème“ in schon belustigende Nähe zum Petersburg-Akt des Nürnberger „Eugen Onegin“. Constanze Schusters Kostüme pegeln zwischen einem rosa Discount-Strickhäubchen für Mimì und Herrensakkos. Das Produktionsteam stellt sich Künstler vor wie städtische Angestellte beim Abendausgang.

Legitim wäre das: Murger zeigte in seinem Fortsetzungsroman 1851 die Fallhöhe von sich als Genies verstehenden Wohlstandsbengeln und in einem lapidaren Epilog deren Verspießerung. Emile Zola brachte 1884 mit „Das Paradies der Damen“ die Romanstudie über ein Pariser Großkaufhaus heraus, das dem Einzelhandel den Garaus macht und die turbokapitalistischen Sozialmechanismen der Bell‘Époque spiegelt. So weit denkt das Produktionsteam leider nicht. Dieses versetzte „La Bohème“ – eigentlich sinnfällig – in die postpandemische Rezession und Ideenverdrossenheit.

Szenenbild aus Puccinis „La bohème“ am Theater Münster
Szenenbild aus Puccinis „La bohème“ am Theater Münster

Soziotopographische Unschärfe

Mimì hustet vollkommen ungeniert ihre Aerosole auf die Tresenfläche des Barwagens. Das ist nur einer von vielen handwerklichen Schnitzern, welche den Weg zum Ziel von Méndez‘ Regie begleiten. Dabei hat Méndez Substanzielles beizutragen zum Emotionenspiegel Puccinis, der die Frauenfiguren seiner Opern weitaus humaner behandelte als die Frauen seines physischen Lebens. Eigentlich gut gedacht: Mimì ergreift bei Méndez Eigeninitiative, um sich den sympathischen Dichter Rodolfo zu angeln.

Später führen die mit allen Mitteln in den Starlet-Himmel drängende Musetta und Marcello (im hübschen roten Anzug) einen leidenschaftlichen und echt bipolaren Rosenkrieg. Ihr fieses Schimpfgewitter beenden sie nicht durch Türenschlagen und echte Schläge, sondern mit einem vor Begehren berstenden Kuss. Méndez will zeigen: Liebe ist viel mehr als die simple Addition von Emotionen und Sex. Aber sie strauchelt bei der Beweisführung für dieses im romantischen, neoromantischen und postromantischen Musiktheater unverzichtbare Axiom.

Szenenbild aus Puccinis „La bohème“ am Theater Münster
Szenenbild aus Puccinis „La bohème“ am Theater Münster

GMD Golo Berg lässt die Fortissimo-Pranke an nur ganz wenigen Stellen zu. Die mittleren Dynamikbereiche sind vom Sinfonieorchester Münster weicher Samt und legen dem Musiktheater-Ensemble den idealen Klangteppich. Berg separiert die Instrumentengruppen und umhüllt deren Transparenz mit Seide. Man hört, dass Puccini sich zwischen „Manon Lescaut“ und „Tosca“ als zweiter Massenet erproben wollte und ihm das weitgehend gelang.

Alcindoro, der Super-Bohèmien

Oscar Marin Reyes befördert den zu oft als Knallcharge denunzierten Staatsrat Alcindoro um einige Interessengrade nach oben. Als Beau, Tütchen-Schlepper und eleganter Apportier-Dackel Musettas verwirklicht dieser Alcindoro seine devote Seite. Der Bassbariton wird damit fast zum Mittelpunkt des Momus-Bilds, empfiehlt sich unbedingt für größere Aufgaben. Wie Robyn Allegra Parton das genau macht, ist nicht ganz klar: Sie wertet Musetta zur von Innen leuchtenden Figur auf. Stimmschön und etwas neutral bleiben Johan Hyunbong Choi als Marcello und Kihoon Yoo als Colline. Gregor Dalal verkörpert Schaunard an der Schnittstelle von Charlie Chaplin und Grand-Guignol-Patron.

Szenenbild aus Puccinis „La bohème“ am Theater Münster
Szenenbild aus Puccinis „La bohème“ am Theater Münster

In diesem Ambiente dominieren Rodolfo und Mimì sogar noch einen Kick mehr als in anderen „Bohème“-Produktionen. Das liegt vor allem an der herzlichen und auch aus der Stimme leuchtenden Integrität von Marlena Devoe. Sie gibt mit hellem Melos eine in klaren Höhen pulsierende Mimì. Garrie Davislim gewährt ihr als Rodolfo in der „Händchen“-Arie und allen anderen Soli in kollegialer Zuvorkommenheit einen idealen Debüt-Kick. In diesem Sinn voll korrekt machen die beiden Paare mit Reyes‘ Alcindoro im Schlepptau voll auf lyrische Italo-Operette. Letztlich passt das auch, weil es in der Münsteraner Neuproduktion mit der soziotopographischen Beobachtungsschärfe szenisch nicht sonderlich weit her ist. Durch sängerische und orchestrale Delikatesse wird das allerdings mehr als wettgemacht.

Theater Münster
Puccini: La bohème

Golo Berg (Leitung), Effi Méndez (Regie), Stefan Heinrichs (Bühne), Constanze Schuster (Kostüme), Anton Tremmel (Chor), Margarete Sandhäger, Rita Storck-Herbst (Kinderchor), Ana Edroso Stroebe (Dramaturgie), Garrie Davislim, Marlena Devoe, Johan Hyunbong Choi, Robyn Allegra Parton, Gregor Dalal, Kihoon Yoo, Sven Bakin, Oscar Marin Reyes, Benjamin Park, Kiyotaka Mizuno, Hyung Hee Kevin Pank, Theaterkinderchor Gymnasium Paulinum, Opernchor des Theater Münster, Extrachor des Theater Münster, Sinfonieorchester Münster






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