In seinem Hybrid-Opus „Mass“ thematisierte Leonard Bernstein Spaltungen, Lieblosigkeit, existenzielle Leere und Zukunftsängste vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs und globaler Veränderungen. Bernsteins jüngste Tochter Nina Bernstein Simmons berichtet in ihrem Originalbeitrag für das Münsteraner Programmheft über das Zeitflair und Hintergründe des Werkauftrags von Jackie Kennedy, der Witwe des 1963 ermordeten US-Präsidenten, zur Eröffnung des John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington D.C. Die katholische Messe-Liturgie hatten Bernstein und sein Texthelfer Stephen Schwartz mit großen Zweifeln des Priesters (The Celebrant), der Ministrierenden, einer bunten Gemeinde und der Gläubigen übermalt.
Trotzdem erreichte das Werk seit der Uraufführung am 8. September 1971 eine beachtliche Erfolgskette, wenn diese auch weitaus kürzer blieb als die von „West Side Story“ und „Candide“. Aus diesen Spitzentiteln blitzen immer wieder Reminiszenzen im Orchester- und Vokalsatz von „Mass“ auf. Anfang der 1980er Jahre kam das Werk an die Wiener Staatsoper, 2000 sogar in den Vatikan und es gibt mindestens fünf Tonträger-Publikationen. Die jüngste entstand mit dem ORF-Symphonieorchester unter Dennis Russell Davies zum 100. Geburtstag des Komponisten.

Westfälisches Stadt- und Friedensevent
Am 26. August waren beim Museums- und Galerienfest Schauraum sonst unzugängliche Orte in Münster geöffnet, wurde die traditionelle Party des CSD durch eine ernste Demo und einen Stände-Parcours im Stadtraum ersetzt, ruft die Ausstellung „Off the pedestrals“ in der Kunsthalle zu einer Überprüfung von Aspekten der Erinnerungskultur. Die „Mass“-Premiere sollte zu einem Höhepunkt dieser urbanen Feste werden.
Eine angemessene Frage stellte auch Leonard Bernstein zum Ende seiner etwa 110-minütigen pausenlosen Komposition. Was bleibt, wenn der Lack ab ist vom Nimbus des Dogmas und der Glaubwürdigkeit des Ritus? Bernstein differenzierte das äußerst subtil und ernsthaft. Die Bühne war voll, obwohl man die vom Verlag Boosey & Hawkes empfohlene Besetzungszahl von 60 Chormitgliedern, 20 vom Knaben- zum Kinderchor erweiterten weißen Stimmen und die Zahl von 45 Street People vom Tanzensemble nicht ganz erreichte.

Populär und subtil
Die Eröffnung der Komposition: Ein hoher Sopran intoniert das Kyrie eleison. So klingt bereits in den ersten Takten der Zweifel im Lob und damit das zentrale Thema von Bernsteins Anti-Messe. Sein maliziöses Spiel mit Gospel-, Blues-, Rock-, Pop- und Spiritual-Elementen streift anarchische Auflösungsandeutungen. Kein Zweifel: Mit „Hair“ und der nur fünf Wochen später uraufgeführten Rockoper „Jesus Christ Superstar“ bildet „Mass“ eine irdische und utopische Sinnfragen-Trilogie der frühen 1970er.
Die philharmonische Truppe des Sinfonieorchesters Münster ist bereichert mit einem Percussion-Apparat auf der Bühne vorn und einer Band-Formation auf der Bühne hinten. Am Ende lässt Stefan Rieckhoff die kleinteiligen Glasfenster der Kirche hochziehen und gleißendes Licht fällt in den düsteren Sakralraum mit den künstlichen Elektrokerzen und dem vereinsamten Priester, den hin und wieder ein kleinerer Gefährte als Alter ego begleitet. Ganze Heerscharen von Ministrierenden ziehen auf, aber auch Heerscharen von verneinenden Geistern in schwarzen Trikots mit Skelett-Linien. Diese eigenwillige Liturgie ähnelt in Münster mitunter einer spontanen Halloween-Party.

Weiß – Schwarz – Bunt
Dabei hat Bernstein räumlich und transparent komponiert. Thorsten Schmid-Kapfenburg, der Münsteraner Komponist am Pult, hätte das verstanden. Aber das Soundteam war gegen ihn, pegelte und drehte die Klangflächen pauschal auf zu einem starken Wellengang aus Phonzahlen. Zu den subtilen Zweifeln und Einwürfen der Menge gellten die Posaunen von Jericho, gesteigert zu einem megalopolischen Sprachrauschen. Der Regisseur Tom Ryser hält sich zwar am Messe-Ritus fest, findet über dem Dualismus von Weiß und Schwarz allerdings keine differenzierten Bewusstseinsfarben. The Show must go on: Während die Chöre (einstudiert von Anton Tremmel) noch Ansätze zur Differenzierung erkennen lassen, verbindet Lillian Stillwells Choreografie eine stereotype Bewegungsfigur mit der nächsten.
Darunter leidet auch der eigentlich ideale Bariton Samuel Schürmann in der zentralen Partie des Celebrant. Dieser zögert, zweifelt und zeigt die Anstrengungen eines Missionars, dem seine Missionsinhalte von der inneren Erfüllung zur Bürde werden. Die Münsteraner Mass-Show dauert zum Glück nur so lange, bis es kurz vor Schluss endlich stiller wird auf der Bühne. Diese Verhaltenheit und nicht der Musical-Glamour zwangen das Premierenpublikum kurz vor Schluss in eine Ergriffenheit und Applaus-Explosion, als handle es sich bei „Mass“ um „West Side Story“.
Theater Münster
Bernstein: Mass
Thorsten Schmid-Kapfenburg (Leitung), Tom Ryser (Regie), Lillian Stillwell (Choreografie), Stefan Rieckhoff (Bühne & Kostüme), Louise Flanagan (Kostüme), Anton Tremmel (Chor), Margarete Sandhäger, Rita Stork-Herbst, Jörg von Wensierski (Einstudierung Boys Choir), Stefanie Fischer, Eléonore Turri (Choreografische Assistenz und Einstudierung),Samuel Schürmann (Celebrant), Antonio Calanna, Josefien Kleverlaan, Mariyama Ebel, Antonio Calanna, Stefanie Smailes, William Baugh, Katharina Sahmland, Maria Christina Tsiakourma, Mariyama Ebel / Benjamin Park, Anping Lu (Tenor), Ramazan Karaoglanoglu (Bariton), Kihoon Yoo (Bass), Schülerinnen und Schüler des Gymnasium Paulinum (Boys Choir),Opernchor des Theater Münster, Extrachor des Theater Münster, Sinfonieorchester Münster, Tanz