Das Hufeisenrangtheater in Plauen ist größer als man denkt, Vorhang und Bestuhlung leuchten in edlem Rot: Der richtige Rahmen also für ein in der mitteleuropäischen Musical-Szene noch frisches und unverbrauchtes Meisterstück. Im Untertitel von „Liebe, Mord und Adelspflichten“ steht Roy Hornimans Roman „Israel Rank. Die Autobiografie eines Verbrechers“ als literarische Quelle. Die Filmadaption „Adel verpflichtet“ von Robert Hamer mit Alec Guinness in den Rollen von acht Mordopfern ist hierzulande weitaus bekannter. Sie gilt als Prototyp des „britischen Humors“: schwarz, makaber, trocken.
Etwas anders als „Adel verpflichtet“
Der Autor Robert L. Freedmans (bekannt für seine TV-Fassungen von „Rodgers & Hammerstein’s Cinderella“ und „Life with Judy Garland: Me and My Shadows“) wechselte in „A Gentleman’s Guide To Love And Murder“ zwischen bühnensicheren Anpassungen und einigen dem Geist des 21. Jahrhunderts schmeichelnden Freiheiten. In der Musical Comedy kommt es – anders als in der finalen Schocksekunde des Films – zum guten Schluss. Sibella und Phoebe, Rivalinnen um den unwiderstehlichen Bankhausangestellten Montague Navarro, solidarisieren sich. Sibellas Intrige ist also eliminiert, „Montys“ in der Untersuchungshaft geschriebene Memoiren über Mord und noch mehr Morde werden nicht öffentlich. Also kann die prickelnde Ménage-à-trois beginnen.
Das Musical entstand bereits 2006, hatte wegen der Filmrechtlage allerdings erst 2012 erste Vorstellungen in Hartfort, Connecticut. Es lief von 2013 bis 2016 nonstop am Broadway und erlebte seine deutsche Erstaufführung 2021 am Landestheater Detmold, kam nach Krefeld-Mönchengladbach und zum Glück des Publikums wie des Ensembles jetzt ans Theater Plauen Zwickau.
Die Musical-Könner
Eine Sternstunde in jeder Hinsicht! – durch Plot, Text, Musik, Szene, Ensemble, Bühne und den ganzen Stab. Nach „The Addams Family“, „Das letzte Schiff“ und „Blues Brothers“ kann man den westsächsisch-ostvogtländischen Häusern unter Dirk Löschners Intendanz den Orden für gekonntes Musical anheften. Auch für die das Niveau steigernden Softskills: Gutes Sounddesign, reibungslose Verwandlungen und blitzschnelle Kostümwechsel wie hier sind nicht nur für Theater mit kleinerer Personalbesetzung eine Glanzleistung. Dabei fordert die Musik des am 9. Oktober 2023 verstorbenen Steven Lutvak mit ihrer Leichtigkeit, Lustigkeit, Gestenreichtum und Erzähldichte enorm viel. Unerlässlich sind instrumentale Agilität bis in die Akkorde zwischen einzelnen Wörtern und die ganz enge Koordination des Orchestergeschehens zum theatralen Spiel. Dass Musik und Szene weder zu grob noch zu fein geraten, ist die Voraussetzung für das Gelingen dieses Stücks. Michael Konstantin koordiniert und dirigiert ideal. Er gibt dem Ensemble die genau richtige Beschwingtheit für die Konversationen und unterminiert Melodien situations- wie charakterscharf. Klangidiome der großen Musicalvergangenheit schimmern, materialisieren sich aber nie zum greifbaren Zitat. Alles schwebt und leuchtet, sogar das Makabre.
Taktile Beschwingtheit
Musical-Experte Cusch Jung stupste und modellierte an den Figuren, macht den Verwandtenserienmörder „Monty“ auf der Erbfolge-Überholspur zum sympathischen Mittelpunkt. Bei den erst durch feine Noblesse richtig lustigen Klischees über den alten englischen Adel hat Jung zwei richtige Händchen. In verschrobenen, realistischen und noblen Kostümen sind die Ensemblemitglieder trotz Aufwand für Frisuren und Maske total blank auf sich und Cuschs anspielungsreiche Fingerzeige gestellt, weil Karin Fritz Projektionen, Tafeln und Accessoires zur prägnanten Schauplatzbestimmung einsetzt. Solche Einfachheit steigert die Komödiantik aus den Dialogen und Lutvaks feinnerviger Musik. Ein Glücksfall, dass die deutsche Übersetzung von Daniel Große Boymann großartige Momente durch kleine Detailverliebtheiten reiht. Stück und Aufführung halten in Plauen-Zwickau locker die geniale Dramaturgie des Filmklassikers, sind aber anders.
Phänomenale Besetzung
Auch durch die Besetzung. Es gibt nur einen Mann für‘s Gröbere: Wer hatte die sagenhafte Idee, Tom Quaas für die Opferrollen aus der Familie D’Ysquith zu holen? Passend zur Typ-, Stimmungs- und Situationslage rasselt, blökt und zwitschert Quaas durch die Szenen und Figuren: herzhaft, schwuchtelig, patriarchal, jovial, toxisch, grotesk, übergriffig – einfach wunderbar! Neben ihm wirkt Peter Lewys Preston als Montague Navarro wie ein sympathischerer Dorian Gray. Preston gibt einen Mörder mit Anstand, sich langsam verflüchtigender Anständigkeit, immer weißem Kragen, gewinnenden Umgangsformen und Funken von Restnaivität. Eine enorm wandlungsreiche Stimmgestaltung und Detailgesten mit Andeutungen beginnender Verkommenheit heben Prestons Darstellung wie die des ganzen Ensembles aus der Musical-Schablone, die hier natürlich vollkommen fehl am Platz wäre.
Elena Otten als Sibella gibt eine unerlässlich höhensichere Männerphantasie aus Blond und Pink: ein bisschen kokett, ein bisschen unwiderstehlich, ein bisschen berechnend und umwerfend grazil. Elisabeth Birgmeier toppt die analoge Filmfigur. Als Phoebe D’Ysquith zeigt sie, dass es ein harter Weg ist zum Glauben an das Wahre, Gute, Schöne und die Poesie im greifbaren Leben. Neben der Elfe Sibella ist sie trotz Adel geerdeter, aber kein Trampel und erst recht keine Kitschbombe. Marcus Sandmann gibt die zielstrebige, deshalb goldrichtige Travestie als Miss Shingle. Beim Sextett der sich zu Hauptpartienumfang akkumulierenden Minirollen zwischen gemeucheltem Revuegirl und Scotland-Yard-Kommissar wäre es müßig, die Pointenfunken en gros oder en détail zu zählen, denn das ergäbe einen neuen Roman.
In der Premiere agierten zwischen Revuegirl und Kommissar Jennifer Jennifer, Jacqueline Treydel, Silke Jahn-Popov, Norman Sengewald, Paul Ham und Michael Simmen. Und aus den außerordentlich guten Clara-Schumann-Philharmonikern Plauen-Zwickau hörte man ein ideal akzentuierendes Orchesterklavier.
Theater Plauen Zwickau im Vogtlandtheater Plauen
Lutvak: Liebe, Mord und Adelspflichten
Michael Konstantin (Leitung), Cusch Jung (Regie), Karin Fritz (Bühne & Kostüme), Susanne Germer (Dramaturgie), Peter Lewys Preston, Marcus Sandmann, Elena Otten, Elisabeth Birgmeier, Tom Quaas, Clara-Schumann-Philharmoniker Plauen-Zwickau