Joachim Raff (1822-1882) war nie ganz weg aus dem Repertoire, aber auch nie so richtig präsent – trotz Verfügbarkeit seiner elf Sinfonien mit poetischen Themen und anderer Konzertwerke auf Tonträgern, trotz angekündigter Bemühungen des auf vergessene Schweizer Komponisten spezialisierten Swiss Orchestra unter Lena-Lisa Wüstendörfer und trotz regelmäßig flackernder Bemühungen wie bei der Erzgebirgischen Philharmonie Aue, die im Januar Raffs Klavierkonzert vorstellen wird. Bei den Musiktagen Bad Urach 2002 war „Benedetto Marcello“ die vor der Regensburger Produktion von „Dame Kobold“ letzte Aufführung einer Raff-Oper, sogar eine posthume Uraufführung. Zum 200. Geburtstag des Komponisten im Jahr 2022 bereitet der Leipziger Gewandhauschor die Aufführung seines großen Oratoriums „Welt-Ende – Gericht – Neue Welt“ vor. Die Produktion der von Raff der Großherzogin Sophie von Sachsen Weimar gewidmeten komischen Oper „Dame Kobold“ opus 154 nach Calderón de la Barca am Theater Regensburg ist die erste nach der Uraufführung im Nationaltheater Weimar 1870.
Intendant Jens Neundorff von Enzberg schien fast zu bedauern, dass er sich diesen Fund nicht für seinen neuen Wirkungskreis am Staatstheater Meiningen aufbewahrt hatte. Denn Raff war mit der gesamten mitteldeutschen Musikelite von Franz Liszt bis Clara Schumann in touch, der Lebensweg des geistreichen und hochgebildeten Komponisten kreuzte sich regelmäßig mit denen der ganz Großen.
Durch die Geheimtür zum Bräutigam
Brigitte Fassbaender bekennt sich in ihrer fünften Regensburger Arbeit zur Naivität des Sujets: Ein gar strenger Edler will seiner Schwester nach deren gründlich missglückter Ehe auch den nächsten Gatten vorschreiben. Dieser stellt sich nach einem spukhaften Auftritt, mit dem die Primadonna den Kerl einer sanften Musterung unterzieht, als amouröser Wunschkandidat heraus. Bravour-Arie mit Koloraturen und Tänzeln – Vorhang! Nur weil das Opus in Spanien spielt, fehlt in Bettina Munzers Bühne zwischen zwei alten Rüstungen der röhrende Hirsch in Öl auf Leinwand. Der auskomponierte Clou, dass sich durch den von zarter Damenhand berührten Schwertknauf auf dem Porträt ihres Urahns eine geheime Schwingtür öffnet, bleibt. Das gewinnt bei refrainartiger Wiederholung Loriot-hafte Qualitäten. Man hört dazu Raffs außerordentliche Repertoire-Kenntnisse von „Die Weiße Dame“ bis „Tannhäuser“.
Brigitte Fassbaender inszeniert mit Augenzwinkern
Brigitte Fassbaender, deren Leistungen immer grundehrlich den Umfang ihres Enthusiasmus für die jeweiligen Herausforderungen spiegeln, will hier keine Regie-Goldmedaille. Mit distinguierter Souveränität beschert sie dem Regensburger Tenor-Zugang Oreste Cosimo ein tolles Entrée, weil er viel interessanter wirkt, als es die Partie eigentlich hergibt. Er und Sara-Maria Saalmann, die aus der munteren Drahtzieherin Beatrice einen Charakter modelliert und überdies die über den Abend verstreuten Sätze der Ballettmusik choreografierte, sind aus jenem sensiblen Sängerholz, das Raffs Absinken in Plattheiten verhindert. Johannes Mooser gibt mit sehr hellem Bariton den Fiesling im Flieder-Gehrock, Oliver Weidinger den mit szenischem Taktgefühl aufgewerteten Diener, und am Premierenabend ist Anna Pisareva eine Protagonistin mit selbstbewussten Vorstellungen darüber, dass sich diese lyrische Komödie für Weimar nur mit Mitteln des hochexpressivem Belcanto von südlich der Alpen meistern lässt. Recht hat sie – zumal in dieser Kurzfassung unter Fußballspiel-Länge nach der Edition durch den Raff-Kenner Volker Tosta folgend der im Stadtarchiv Weimar aufbewahrten Originalpartitur.
Großflächige Kleinfassung
Aus der Originalfassung machte Tom Woods eine chorlose Einrichtung für zwanzig Musiker und ergänzte die originale Orchesterbesetzung mit einer Harfe, die den romantischen Mischklang für das kleinere Ensemble bewahrte. Er und Fassbaender zerteilten einige der mehrsätzigen Nummern und entsorgten alle Orchesterrezitative, welche Raffs „Benedetto Marcello“, vor kurzem beim schwedischen Label Sterling auf CD erschienen, etwas in die Länge ziehen. Das Ergebnis war eine in der leichten Überakustik des rot-goldenen Regensburger Rangtheaters umso mehr losfetzende Melodienreihe – etwas verzopft und deshalb liebenswert. Der Drive dieser Musik macht alle auf der Szene eingehaltenen Distanzierungsmaßnahmen vergessen.
Die Italien-Liebe deutscher Tonkünstler
Eines wurde deutlich: Raff wählte das einen Entwurf des ersten Tristan-Darstellers Ludwig Schnorr von Carolsfeld aufgreifende Libretto von Ernst Reber, um das Nationaltheater Weimar an hemmungsloser und lustvoll gekonnter Italianità zu überfluten. Raffs Tonsprache ist etwas grobkörniger als Cornelius „Der Barbier von Bagdad“, hat etwas weniger Feinsinn als Goetz‘ „Der Widerspenstigen Zähmung“ und ist ein stellenweise zügelloser Beleg für die um 1870 sonst nur latent schwelende Italien-Liebe deutscher Tonkünstler. Einen Schritt weiter und Raff wäre bei Suppé, Strauß, Millöcker. Das macht Neugier auf weiteres verschollenes Operngut, was sich zwischen Heinrich Dorns „Die Nibelungen“ und Ethel Smyths „Fantasio“ in den Uraufführungsnetzen des Weimarer Hoftheaters verfangen hatte, aber danach nie wieder geborgen wurde. Musiktheater wird an diesem Abend zur schönen Illusionskunst, von der sich das mit vielen überregionalen Interessenten durchsetzte Premierenpublikum gerne gefangen nehmen ließ. Zur ganz großen Verzauberung reichte es nicht ganz, weil viele Zutaten aus Raffs musikalischem Chemielabor nur zu gut bekannt sind.
Theater Regensburg
Raff: Dame Kobold
Tom Woods (Leitung), Brigitte Fassbaender (Regie), Bettina Munzer (Bühne), Anna-Sophie Lienbacher (Kostüme), Sara-Maria Saalmann (Choreografie), Wanja Ostrower (Licht), Julia Anslik (Dramaturgie), Johannes Mooser (Don Juan), Anna Pisareva/Theodora Varga (Donna Angela), Oreste Cosimo (Don Manuel), Sara-Maria Saalmann (Beatrice), Oliver Weidinger (Rodrigo), Rainer Stegmann (Gitarrist), Philharmonisches Orchester Regensburg