Am Anfang, wenn sie alle so tun, als würden sie auf ihren altmodischen Holzbänken von einem fahrenden Zug durchgerüttelt oder sich in einem runtergekommenen Wartesaal langweilen, könnte man fast vermuten, dass es witzig wird an diesem Abend in der neuen Oper „Valuschka“ von Peter Eötvös Man redet von den üblichen Verspätungen. Ganz so, wie hierzulande heutzutage. Aber es wird nicht witzig – ganz im Gegenteil. Der Titelheld endet in der Nervenheilanstalt, die Gesellschaft „draußen“ in einer finsteren Diktatur. Die düster deprimierende Stimmung, die schon in seiner vor drei Jahren an der Berliner Staatsoper uraufgeführten Oper „Sleepless“ die Szene beherrschte, ist hier zwar nicht so in die Partitur gekrochen wie bei der Oper nach Jon Fosse. Dafür ist der Plot (nach dem 1989 erschienen Roman „ Melancholie des Widerstands“ von László Krasznahorkai) ins gesellschaftlich Grundsätzliche erweitert und verschärft.
Vorrecht auf ein Alterswerk
Das hebt sich spürbar ab von seinen bekanntesten Literaturopern wie „Tri Sistri“ (nach Tschechows „Drei Schwestern“ 1997), „Angels in America“ (nach Tony Kushner Schauspiel 2004), „Love And Other Demons“ (nach Gabriel García Márquez 2008) oder „Der Goldene Drache“ (nach Schimmelpfennig 2014). Mit nunmehr 80 Jahren und mit 13 Opern hat der Ungar natürlich jedes Vorrecht auf ein Alterswerk ganz eigener Prägung. Seiner üblichen Praxis, seine Neuschöpfungen selbst bei ihrer Uraufführung zu dirigieren und ihnen damit das Label des Authentischen hinzuzufügen, machte diesmal eine schwere Erkrankung einen Strich durch die Rechnung.
Der Plot hat groteske Züge
Der Regensburger GMD Stefan Veleska hat sich freilich als höchst kundiger Anwalt von Eötvös’ jüngster Schöpfung erwiesen. Für ein Theater wie Regensburg (dessen Nobilitierung als Staatstheater beschlossene Sache ist) war es natürlich eine alle Kräfte mobilisierende Ehre und Herausforderung, dass einer der renommiertesten Komponisten der Gegenwart einen Kompositionsauftrag annahm. Und lieferte. Nannte der Komponist „Sleepless“ noch eine OPERA BALLAD, so nennt er „Valuschka“ eine „Tragikomödie mit Musik, eine groteske Oper“ – wobei der zweite Teil auf Anhieb einleuchtet. Schon der Plot hat groteske Züge.
Wiedergänger des reinen Toren Parsifal
Der Titelheld János Valuschka ist der örtliche Postbote und von schlichtem Gemüt. Als Opernheld ist er bei dem fabelhaften Benedikt Eder so eine Art Wiedergänger des reinen Toren Parsifal (für musikalische Insider hat Eötvös Anklänge an Wagners opus magnum eingeschmuggelt). Eine bevorstehende Katastrophe deutet sich unverkennbar im Verhalten der Männer an. Der dreisteste Macho – der bezeichnenderweise „Mann im Lodenmantel“ heißt (und von Jonas Atwood überzeugend verkörpert wird), tut sich dabei besonders hervor, wenn der die Mutter von Valuschka (Theodora Varga) in der Zugtoilette zu vergewaltigen versucht. Sie bleibt am Ende auch bei dem ausbrechenden Chaos und den Orgien der Gewalt auf der Strecke.
„Es grünt so grün“
Valuschka selbst hat da fast noch Glück, denn die Bürgermeisterin Tünde (zupackend skrupellos und machtbewusst: Kirsten Labonte) hatte ihn benutzt, um sich der Mithilfe des Professors zu bedienen. Roger Krebs ist eigentlich ihr Ehemann, hat sich aber längst in seine Welt der Musik zurückgezogen, und nur der ebenfalls in seiner eigenen Welt von der Faszination des Kosmos und der Gestirne lebende Valuschka hat einen Zugang zu ihm. Beide lassen sich von Tünde missbrauchen, die es schafft, mit der Bewegung „Es grünt so grün“ (ein Schelm, wer Böses dabei denkt) an die Macht zu kommen.
Symbol für nicht genau fassbare Bedrohungen
Wirklich ins Rutschen geraten die Verhältnisse, als ein Wanderzirkus (eine Steilvorlage für das Uraltrezept der Mächtigen: Brot und Spiele!) in die Stadt kommt und als Attraktionen den größten ausgestopften Wal der Welt und einen geheimnisvollen Prinzen (angeblich mit drei Augen) ausstellt. Das Riesenvieh wird zum Symbol für nicht genau fassbare Bedrohungen, der Prinz mit seinen angeblichen Reden zum Vorwand für den unkontrollierten Ausbruch von Hass und Gewalt. Dem Prinzen, den man in der Inszenierung von Sebastian Ritschel i n einem Käfig auch sieht, hat Eötvös zwar keine Worte, aber eine gefährlich schrille musikalische Aura verpasst. Der Ausbruch der Gewalt, dem die Prospekte von Kristopher Kempfs mit naturalistischen Elemente spielender Bühne zum Opfer fallen, mündet in einem Fackelzug der Schwarzuniformierten als Insignien einer Machtergreifung, wie man sie so klar lange nicht auf einer Bühne gesehen hat. Die Parabel freilich wäre auch ohne Fackeln klar. Und beklemmend genug.
Gewaltige Choreruptionen
Für seine neue Komposition hat Eötvös eine symmetrische Aufstellung der Instrumentengruppen vorgeschrieben und den Apparat mit Schlagwerk (wie Trommeln, Cajons, großen Tamtams, Lotusflöte und sogar Plastikflaschen) aufgerüstet. Die Musik ist deftig, mitunter kleinteilig heftig und pointiert. Melodisches ist eher selten, am ehesten noch im Parlando des Titelhelden. Gewaltig ist die Wirkung der eruptiven Ausbrüche des von Hanisch Shankar einstudierten, auf 28 aufgerüsteten Männerchores. Als Stück, das mehr zur Zeit passt, als man sich träumen ließ, macht „Valuschka“ in Regensburg vor allem musikalisch und mit der Qualität des Ensembles Eindruck. Die Uraufführung der ungarischen Fassung, von der (so hieß es in Regensburg) nur 70 Prozent in die deutschsprachige Neufassung eingingen und 30 Prozent vor allem wegen des unterschiedlichen Sprachrhythmus neu komponiert sind, was allemal den Ausweis als Uraufführung rechtfertigt, gab es im Dezember in Budapest. Der Europäer Eötvös hatte tatsächlich das erste Mal ein Werk zuerst auf Ungarisch komponiert. Wie gesagt, er hat das Vorrecht eines Alterswerks.
Theater Regensburg
Eötvös: Valuschka
Stefan Veselka (Leitung), Sebastian Ritschel (Regie & Kostüme), Kristopher Kempf (Bühne), Martin Stevens (Licht), Harish Shankar (Chor), Ronny Scholz (Dramaturgie), Gabriel Kähler, Benedikt Eder, Theodora Varga, Kirsten Labonte, Svitlana Slyvia, Roger Krebs, Jonas Atwood, Hany Abdelzaher, Paul Kmetsch, Michael Daub, Alexander Aigner, Daniel Schliewa, Paul Kmetsch, Momoe Kawamura/Chih-Yuan Yang, Seymur Karimov, Philharmonisches Orchester Regensburg