Das Leben ist eine große Party und wir sind mittendrin – und das im wahrsten Sinne des Wortes: Regisseurin Sandra Leupold öffnet die vierte Wand am Theater Stralsund und überwindet mit dezenten Mitteln die Barrieren zwischen theatraler Bühnenwelt und wahrhaftiger Wirklichkeit.
Keine Frage, Verdis musikalischer Rückblick auf das kurze, achterbahnartige Leben der Kurtisane Violetta Valéry ist eine der beliebtesten und meistgespielten Opern überhaupt. Für die tragische Geschichte nahmen sich der Komponist und sein Librettist Francesco Maria Piave den Roman „La Dame aux camélias“ („Die Kameliendame“) von Alexandre Dumas d. J. zum Vorbild, der wiederum auf dessen Affäre mit der 1847 an Tuberkulose gestorbenen Pariser Kurtisane Marie Duplessis beruht. „La traviata“ ist also inspiriert von wahren – und vor allem zu Verdis Zeiten brandaktuellen – Begebenheiten.
Desillusionierung und neue Illusion: Opernfiguren im Austausch mit dem Publikum
Sandra Leupold, Empfängerin zahlreicher Regiepreise und stets bekannt für besondere Lesarten – zuletzt brachte sie Wagners „Der fliegende Holländer“ in Graz heraus – stellt sich jedoch bewusst gegen die Charakterisierung und erzählende Darstellung einer historischen Persönlichkeit. Sie zeigt Violetta Valéry und all jene, die um sie herum tirilieren, als das, was sie in jenem Moment der Aufführung sind: Opernfiguren.
Alle, die auf der Bühne ihr ewiges Lebensdrama darbieten, sie alle sehen das Publikum, wissen, dass es da ist, sie sehen das Theater, sie steigen von der Bühnenrampe in den Saal herab, treten aus dem Lichtkegel, weil der grelle Scheinwerfer sie blendet. Einerseits desillusioniert dies die romantische Idee, den Bühnenguckkasten wie eine Kinoleinwand als Fenster in eine andere, möglichst echt wirkende Realität zu nutzen und dem Geschehen aus mitreißender, aber sicherer Distanz zu folgen. Andererseits entsteht so wiederum eine gänzlich neue Illusion, nämlich dass die Figuren in der Oper um ihrer selbst, um ihrer eigenen Seele willen existieren, handeln – und zugrunde gehen.
Wie Partyqueen Violetta mit multiplen Perücken ihre Rollen spielt
Der dekorative Rahmen des ganzen bleibt dabei allerdings kärglich-steril: So bunt wie die exzessiven Feiereien zu Beginn sind (zu den berühmten Verdi’schen Gassenhauermelodien verläuft sich hier eine farbenfrohe MDMA-Partymeute in einer überdrehten Choreografie, ständig auf der Jagd nach dem ultimativen Vergnügungsrausch), so bedrückend und bewusst spärlich ist das quasi nicht existente Bühnenbild (Bühne & Kostüme: Jochen Hochfeld), das lediglich aus schwarzem Raum mit Blick in die nackte Dunkelheit der Hinterbühne besteht.
Im Zentrum des hemmungslosen Trubels? Partyqueen Violetta in pinkem Glitzerkleid und mit einem guten halben Dutzend verschiedenfarbiger Perücken, welche sie rotierend durchwechselt – auch sie spielt als Kurtisane ja schließlich nur verschiedene Rollen in ihrer Rolle. Erst im zweiten Akt, als sie versucht mit dem liebenswerten, aber etwas unbeholfen plump daherkommenden Alfredo ein ruhiges Leben in Liebe zu beginnen, zeigt Violetta im Morgenrock ihre ungeschminkte Persönlichkeit.
Die wunderbare Sopranistin Katharina Constanti, Mitglied des Ensembles, gewährt Einblicke in den zerbrechlichen Menschen hinter der prickelnden Party-Kokotte
Ensemblesopranistin Katharina Constanti ist dabei nicht nur rollentechnisch, sondern auch gesanglich beeindruckender Dreh- und Angelpunkt des Abends. Dass ihr wenige Tage zuvor noch die Stimme versagte, ihr Auftritt und Durchhalten bei der Premiere krankheitsbedingt bis zum Schluss fraglich waren, davon war nichts zu merken. Sie singt ihre Violetta mit impulsiver Kraft, hoher Sensibilität und vor allem – gemäß Leupolds Regie – ohne Kitsch, ohne ausschweifendes Romantisieren, sondern echt und verletzlich; gewährt dem Publikum, dem sie beim Gang durch die erste Parkettreihe direkt in die Augen sieht, immer wieder Einblicke in den zerbrechlichen Menschen hinter der prickelnden Party-Kokotte.
Unterstützt wird Constanti von einem ebenfalls großartigen Hauptrollen-Cast. Mit Costa Latsos etwa hat sie einen mitunter etwas bewusst ruralen, aber lyrisch immer wieder hell aufblühenden Alfredo an ihrer Seite. Dessen Vater Giorgio Germont – der nicht ohne gewisse Komik von Alfredo zwischenzeitlich in panischem Kreislauf mehrfach umrundet wird – singt ruhig bedacht mit dem gleichermaßen patriarchisch-strengen wie gütigen Bariton von Maciej Kozłowski. Das Philharmonische Orchester Vorpommern unter der Leitung von GMD Florian Csizmadia liefert dazu einen geradlinig-strukturierten, sehr klaren und feingliederigen, aber gerade im Vergleich zu den Exzessen auf der Bühne, recht nüchternen Klang aus dem Orchestergraben.
Draußen geht die wilde Sause, drinnen wird gestorben
Auf wie vor der Bühne und auch außerhalb des Saals überlässt Regisseurin Leupold nichts dem Zufall. Wenngleich nicht jedes szenische Stilmittel vor Innovation strotzt (etwa häufige hintergründige Massenbewegungen in Zeitlupe) und nicht jede unkonventionelle Nutzung der Räumlichkeiten unbedingt praktikabel ist (zwischenzeitlich wird im Parkett mit dem Rücken zum Publikum gesungen), so hat doch jeder Gang, jede Bewegung, jede Geste der Figuren ihre Bedeutung, und es entsteht nach und nach die Illusion, mittendrin zu sein.
Dieses Gefühl verstärkt sich schließlich noch, als in Violettas intimer, herzzerreißender Sterbeszene immer wieder Partygäste durch die Saaltüren des Zuschauerraums hereinstürmen und, nachdem sie erkannt haben, in welch peinlich-unangenehme Situation sie da geplatzt sind, schleunigst wieder verschwinden. Draußen geht die wilde Sause und hier drinnen wird gestorben – solche Spielverderber! Aber der Tod, der die auf dem Boden kauernde Violetta langsam, fast unmerklich wie eine unsichtbare Macht in die dunkle Tiefe hinabzieht, gehört nicht in diese Welt des Vergnügens.
Mittendrin statt nur dabei
Bunte Luftschlangen, Partyhüte sowie geleerte Hartschluck- und Champagnerflaschen, die der aufbrausende Chor als wild feierndes Partyvolk auf der Bühne verteilt, finden sich in den beiden Pausen zwischen den Akten plötzlich wild verstreut im Foyer und im gesamten Vorderhaus wieder. Spätestens hier ist jedem klar: Dieser Opernabend hat ein Gesamtkonzept, durch das man selbst zum Teil der Inszenierung wird und selbst eintauchen kann in die Welt der „Traviata“.
Theater Vorpommern
Verdi: La traviata
Florian Csizmadia (Leitung), Sandra Leupold (Regie), Jochen Hochfeld (Bühne & Kostüme ), Kirsten Heitmann (Licht), Csaba Grünfelder (Chor), Katharina Constanti, Costa Latsos, Maciej Kozłowski, Claudia Scheiner, Kristina Herbst, Semjon Bulinsky, Thomas Rettensteiner, Jaehwan Shim, Opernchor des Theaters Vorpommern, Philharmonisches Orchester Vorpommern