Traumverloren unter einem in magisch wechselnde Lichtstimmungen getauchten Baum fanden sich schon einmal zwei tragisch Liebende wieder. Das war anno 1983 bei den Bayreuther Festspielen, als Jean-Pierre Ponnelle „Tristan und Isolde“ in Szene gesetzt hatte. Nicht um Richard Wagners ungleiches Paar geht es nun derzeit an der Opéra Comique in Paris, sondern um Christoph Willibald Glucks „Armide“. Auch da, Gluck brachte sein Meistwerk 88 Jahre vor jenem Wagners heraus, verschanzt sich ein ritterlicher Kämpfer hinter den allzu männlichen Vorstellungen von Ruhm und Sitte, auch da pocht eine stolze Frau, die mit allerhand zauberischen Kräften ausgestattet ist, auf ihr Gefühl. Während sich Isolde und Tristan am Ende freilich im Liebestod auf einer höheren Daseinsebene vereinen dürfen, könnte das Ende der Prinzessin von Damaskus kaum bitterer sein: Kreuzfahrer Rinaud (oder Rinaldo – Gluck folgt im französischen Libretto von Philippe Quinault nicht dem italienischen Original der Namen, wie sie in Tassos Epos „La Gerusalemme liberata“ genannt sind) verlässt sie, folgt kurzerhand seiner politischen Pflicht, will vom Orient in den Okzident zurückkehren.
Von Wagner zurück zu Gluck
In ihrer Pariser Inszenierung haben die Schweizer Regisseurin Lilo Baur und ihr Bühnenbildner Bruno de Lavenère nun ein Ambiente kreiert, das an Ponnelles einstigen Wagnerwurf erinnert. Laurent Castaingt lässt das zentrale Element des Baums dazu in sensibel wechselnden Lichtstimmungen erscheinen, die mal ein idyllisches Zurück zur Natur assoziieren lassen, wenn der Baum Teil eines üppig blühenden Urwalds wird, und die mal die ganze Verlorenheit der Armide vermitteln, wenn er vor grauem Nachthimmel als kahl blattloses Wesen keinerlei Zukunft mehr zu haben scheint. Das ist trefflich erdacht, vielleicht aber auch ein wenig kitschig. Auf jeden Fall eröffnet diese Bühne den Raum für Fantasie. Und nimmt Gluck in seinem aus einem Brief von 1776 überlieferten Selbstbekenntnis ernst: Er habe versucht, „mehr Maler und Poet als Musiker“ zu sein.
Reformregie für die Reformoper?
Denn doch ein wenig zu demütig in ihrem Respekt vor Gluck als dem bedeutendsten Bindeglied zwischen Händels Barockoper und Mozarts Klassik gibt sich Lilo Baur in der Personenführung. So steht der famos singende Chor Les éléments meist dem Geschehen interessiert zusehend, ansonsten aber eher unbeteiligt herum. Und zwischen den Hauptfiguren ist die Spannung der ja durchaus nicht konfliktfreien Beziehungen arg begrenzt. Dabei war Gluck seinerseits stolz auf die differenzierte Ausarbeitung der Charaktere. In seiner Reifephase griff sein Ansatz der Reformoper vollends: Nicht mehr der überbordende Zierrat mit die Ohren kitzelnden Koloraturen, wie ihn die Barockoper bot, durfte sein Werk auszeichnen, sondern eine neue Natürlichkeit des Ausdrucks, der auf die moderne Motivierung und Psychologie vorausgriff, wie sie Mozart wenig später perfektionieren sollte. Womöglich wollte Lilo Baur nun Glucks Reformoper mit ihrer Reformregie huldigen, die auf gewagte Experimente verzichtet und ganz der Musik zu ihrem Recht verhilft.
Véronique Gens ist eine anrührende Armide von stolzer, ja erhabener Grandeur
In dieser Hinsicht ist die Pariser Produktion – verblüffenderweise die erste Neuinszenierung in der französischen Hauptstadt seit anno 1905 – in der Tat beglückend zu nennen. Das Glück beginnt mit der Besetzung der Titelpartie durch Véronique Gens. Der französische Star der Barockoper ist mit ihrem dunkel timbrierten, aristokratisch schönen Diventon, der in idealer Mitte von Sopran und Mezzo keine Grenzen zu kennen scheint, eine anrührende Armide von stolzer, ja erhabener Grandeur. Gens befindet sich in bestechender vokaler Form. Mit ihrem Charisma der freien Frau beherrscht sie das Geschehen auch ohne große Gesten. Ian Bostridge als Ritter Renaud hingegen bleibt Geschmackssache. Bei Britten und in Schuberts Kunstlied ist der Brite eine Institution, bei Gluck bleibt er steif in Stimme, Statur und Spiel. Das passt insofern, als es den christlichen Eindringling in einen mittelalterlichen Orient von vornherein negativ zeichnet, es gibt dem Paar freilich – von einem innigen Kuss in ihrem großen Duett abgesehen – von Beginn an kaum eine Chance.
Les Talens Lyriques machen die neue Schlichtheit Glucks zu aufregendem Ereignis
Gluck im Glück herrscht an diesem Pariser Abend im besonderen dank Les Talens Lyriques und deren Leiter Christophe Rousset, der seit der Ensemblegründung 1991 so etwas wie den Marsch durch die Institutionen wagt. Denn die Nische der historischen Aufführungspraxis der Alten Musik mit der Präsenz auf spezialisierten Festivals und der Repertoirebereicherung in Opernhäusern einiger mutiger Intendanten haben Rousset und die Seinen längst verlassen. Schließlich sind die Experten ihres Fachs längst in den bedeutendsten Tempeln der Oper zu Gast – von der Opéra Garnier und der Wiener Staatsoper mit Händel bis zur Mailänder Scala mit Cavallis „La Calisto“. Nun also zeigen die Franzosen zu Hause, wie man die seinerzeit neue Schlichtheit Glucks zu aufregendem Ereignis macht, was an einem Haus wie der Opéra Comique gar nicht so einfach ist, denn dank der akustischen Trockenheit hört man dort einfach alles. So setzt Rousset passend zum Klangambiente des Theaters bei großer Besetzung seines Ensembles auf Clarté und Transparenz, schärft die Vitalität der Phrasierung und die Innenspannung, arbeitet Glucks Farbigkeit heraus, die statt der nurmehr sparsam gesetzten harmonischen Dissonanzen einer ausgeprägten Feinarbeit bedarf, um zu so vollendeter Wirkung zu gelangen.
Théâtre National de l’Opéra Comique
Gluck: Armide
Christophe Rousset (Leitung), Lilo Baur (Regie), Bruno de Lavenère (Bühne), Alain Blanchot (Kostüme), Laurent Castaingt (Licht), Véronique Gens, Ian Bostridge, Edwin Crossley-Mercer, Anaïk Morel, Philippe Estèphe, Enguerrand de Hys, Florie Valiquette, Apolline Rai-Westphal, Fabien Almakiewicz, Nicolas Diguet et Mai Ishiwata, Chor Les éléments, Les Talens Lyriques