Goldene Hähne, die noch dazu im Tenor krähen, oder in höchster Sopranlage zwitschernde Schneeflöckchen sind in der wahren Welt höchst selten anzutreffen. In der Welt der Oper tauchen sie indes mitunter auf – zumal in den märchenhaften Stoffen, die ein Nikolai Rimski-Korsakow vertont hat und die in ihrer Fantastik gar den bassbrüllenden Riesenwurm seines deutschen Kollegen und Zeitgenossen Richard Wagner in den Schatten stellen. Der russische Komponist wird zuletzt auch im Westen mit seiner weniger bekannten Opern immer mehr entdeckt. Einen Geniestreich landete Meisterregisseur Barrie Kosky 2021 mit „Der goldene Hahn“ in Lyon – die Inszenierung wird ab 28. Januar 2024 an die Komische Oper Berlin übernommen. Denn der Meisterregisseur bewies: Worüber man im wahren Leben tunlichst schweigen sollte, davon lässt sich im Märchen trefflich erzählen.
Kunstmärchen zur Chiffrierung politischer Zeitstücke
Während Kinderfabeln mit ihren idealen Prinzessinnen und Königen als (Arche-)Typen des „Es war einmal“ und „So leben sie noch heute“ ihre zeitlosen Wahrheiten verkünden, gleichen Märchen für Erwachsene fast immer heimlichen Zeitstücken. Die geraten dann manchmal auch affirmativ: Wenn Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal in „Die Frau ohne Schatten“ mitten in einem seinen Humanismus korrumpierenden Europa des Ersten Weltkriegs anno 1917 das Hohelied der Gattenliebe singen. Oder Engelbert Humperdinck: Der Meister der in die Romantik des orchestralen Wagnerwalds verlegten Kinderoper „Hänsel und Gretel“ schuf mit „Die Königskinder“ 1909 seinen Schwanengesang als utopisch aufgeladenen Abgesang auf die Märchenoper und postulierte auf des Messer Schneide zwischen tristanesker Spätromantik und Moderne ein inneres Königtum als Gegenentwurf zur Fin de Siècle-Gesellschaft mit ihrem zerbröselnden Sozialgefüge. Die politischen Untertöne der Werke sind nicht zu überhören. Komponisten breiten eben nur den scheinbar abgetragenen und nur scheinbar infantilen Mantel des Märchens über die krassen Konflikte ihrer Gegenwart. Die Opern werden lesbar als Kunstmärchen zur Chiffrierung politischer Zeitstücke.
Zwischen Verhüllen und Verdeutlichen
Auf eben dieses Prinzip der vielsagenden Verhüllung versteht sich just auch ein Nikolai Rimski-Korsakow, der in einem Land lebte, in dem zu seiner Zeit wie in der aktuellen Gegenwart das Aussprechen der Wahrheit mit dem Tode bestraft werden kann. Und Kosky zeigte in seiner Deutung in schönster Dialektik, wie man bei Beibehaltung der Bildsphären des Märchenhaften gleichzeitig die Enthüllung höchst realer Konfliktfelder wagen kann. Sein Ansatz könnte auch für das „Schneeflöckchen“ hilfreich sein, dessen Premiere nun die Winterausgabe der Tiroler Festspiele Erl eröffnete. Denn das titelgebende Unschuldslamm namens Snegurotschka, dem Clara Kim den leuchtenden lyrischen Liebreiz ihres zu Herzen gehenden Soprans leiht und die Präsenz eines verträumten Naturkindes schenkt, führt uns ja nicht einfach nur den Widerspruch von Natur und Zivilisation vor Augen.
Ja, das Schneeflöckchen, sehnt sich danach, den Menschen zu begegnen, sich aus der elterlichen Enge von Mutter Frühling und Vater Frost zu befreien. Snegurotschka könnte Rusalkas russische Schwester sein. Zu verheißungsvoll klingen in ihren Ohren die Lieder des Hirten Lel, die sie in der Ferne hört. Mit den Menschen lernt Snegurotschka auch die Höhen und Tiefen menschlicher Empfindungen kennen – Liebe und Leidenschaft, Eifersucht und Intrigen. Sie begibt sich damit – anders als Normalsterbliche – jedoch in höchste Lebensgefahr, denn der Sonnengott Jarilo, der so lange auf sich warten ließ, könnte Rache nehmen und sie als Opfer einfordern. Ihr persönliches Glücksverlangen nach Liebe und die böse gesellschaftliche Doppelmoral prallen aufeinander. Die Menschen leben innerhalb eines Systems, das von rigiden Normen und hierarchischen Strukturen gestützt wird.
Gefangene des Systems
Wolfgang Menardi hat dafür treffliche Zeichen in seinem Bühnenbild gesetzt: eine Art doppeltes Gefängnis aus einem großen, extra hohen Halbrund und einem in dessen Mitte gesetzten, hinauf- und hinabfahrenden Zylinder. Die Unfreiheit des Kollektivs entspricht dem Eingepferchtsein der Einzelnen. Sogar der (zunächst gar nicht diktatorenfiese) russische Zar ist als verantwortlicher Täter zugleich ein Gefangener des eigenen Systems, der als einsamer Herrscher die anbefohlenen Jubelhymnen seines seit Urzeiten empathielosen Volks (eine Gruppe von männlichen Jubelrussen ist blind!) aus sicherer Distanz wahrnehmen muss. Ja, es ist Winter in diesem Märchenrussland: Die soziale Kälte trifft auf den ebenso allgegenwärtigen meteorologischen Frost. Florentine Klepper berichtet davon mit präzisem analytischem Blick. Die Regisseurin will die Figuren dabei nie desavouieren, sie bleibt demütig und andeutend in ihrem vorsichtigen Realismus, hinter dem nur keine wirkliche Haltung gegenüber dem Geschehen erkennbar wird. Der Regie fehlt der doppelte Boden, den ein Kosky so geschickt zwischen den Ebenen von Märchen und Wirklichkeit einzuziehen versteht.
Natürlich berührt es uns, wenn das Schneeflöckchen zu lieben lernt und damit tödlich dahinschmilzt. Doch der gemeinsame Liebestod mit ihrem Misgir, dem Danylo Matviienko seinen herrlich ausgeglichenen Onegin-Bariton schenkt, wird vom am Ende seine Gutmenschenmaske fallenlassenden Zaren übelst missbraucht. Er nutzt das Opfer des zarten Naturwesens zur vergifteten Affirmation seiner Macht, denn das Hinscheiden des Schneeflöckchens ermöglicht das erneute Aufziehen des Frühlings nach endlos langer Winterszeit. Diese brutale imperialistische Geste ist an dieser Stelle kein Zufall, sondern – der aktuelle Angriffskrieg Russlands auf sein Nachbarland beweist es – Teil der DNA des Landes, die vom Zarenreich über den Stalinismus in die Gegenwart des jetzigen Machthabers führt. Doch im letzten Akt driftet die Regie, statt ein Statement zu setzen, in die Chordamen bunt kostümierende Niedlichkeit ab.
Exzellentes Ensemble
Ein großer Opernabend ist in Erl gleichwohl zu bestaunen. Denn die musikalische Qualität ist maßstabsetzend. Bernd Loebe, der glückvolle Langzeitintendant der Oper Frankfurt, der auch die Tiroler Festspiele Erl bis zur Übergabe an den Tenorstar Jonas Kaufmann im kommenden Herbst künstlerisch leitet, macht klar, warum er für Frankfurt immer wieder das Kritikervotum „Opernhaus des Jahres“ einheimst. Er ist ein Intendant, der nicht nur Regieteams sein Vertrauen schenkt, sondern der sich um die Entdeckung und langfristige Entwicklung von sängerischen Persönlichkeiten kümmert. Loebe kauft nicht Stars ein, er macht Stars. Das mit russischen Muttersprachlern und internationalen Novizen bestens gemischte Ensemble ist von der kleinsten Partie bis zur Hauptrolle exzellent besetzt. Clara Kim in der Titelpartie debütierte gar aus dem Opernstudio der Oper Frankfurt in Erl. Ihre Mutter stattet Victòria Pitts mit satt voluminösem wie warmen Mezzosopran aus. Der vom Schneeflöckchen bewunderte Hirt Lel ist mit dem wunderbar natürlich und rein intonierenden, berückend schönstimmigen, ganz jungen Countertenor Iurii Iushkevich eine Idealbesetzung.
Aaron Cawley macht als Zar deutlich, dass sein Weg zum jugendlich strahlenden Heldentenor ein glücklicher sein wird. Nombulelo Yende als Schneeflöckchens Nebenbuhlerin Kupawa strebt mit Fortune vom lyrischen ins jugendliche dramatische Sopranfach. Der Chor der Tiroler Festspiele ist von harmonischer Klangpracht. Und Orchester der Tiroler Festspiele Erl meidet unter Dmitry Liss mit straffen Tempi, fein ausgehörten Instrumentalfinessen (Holzbläser!) und ausgeprägter Transparenz ganz das süßliche Sentiment und die platten Überwältigungsgesten, die als Gefahren in der Partitur lauern. Stattdessen kommt Rimski-Korsakows ganz eigenes Amalgam jenseits des seinerzeit in Mitteleuropa beherrschenden Wagnerismus und Verismus fein balanciert zum Ausdruck: seine musikalische Märchenwelt aus Archaik, Folklore, Naturton, Liedhaftem, Musikdramatischem und Modernem. Dies zu erleben, ist eine enorme Entdeckung.
Tiroler Festspiele Erl
Rimski-Korsakow: Schneeflöckchen
Dmitry Liss (Leitung), Florentine Klepper (Regie), Wolfgang Menardi (Bühne), Anna Sofie Tuma (Kostüme), Stefan Bolliger (Licht), Olga Vanum (Chor), Wink (Dramaturgie), Clara Kim, Victoria Pitts, Aidan Smith, Nombulelo Yende, Iurii Iushkevich, Danylo Matviienko, Aaron Cawley, Carlos Cárdenas, Anna Dowsley, Liam Bonthrone, Chor der Tiroler Festspiele Erl, Schule für Chorkunst München, Orchester der Tiroler Festspiele Erl
Weitere Vorstellungen: 3. und 6. Januar 2024