Bereits zu Gustav Mahlers Zeiten galt die Wiener Staatsoper, weiland vor dem Ersten Weltkrieg freilich noch als Hofoper firmierend, als ein Tempel der Traditionspflege. Doch der dirigierende Direktor, der nebenbei in der Sommerfrische seine Sinfonien komponierte, soll gesagt haben: „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.“ Dem derzeitigen Noch-Chef am Opernring, dem Franzosen Dominique Meyer, der 2021 an die Mailänder Scala wechseln soll, wurde indes vorgeworfen, den gigantischen Tanker des Repertoiretheaters mit einem allzu konservativen Kurs zu steuern. Der Begriff der Musealisierung kursierte. Doch Meyer verstand die Kritik und schwenkte um: Es gab und gibt nicht mehr nur risikominimierte Kassenknüller, die den Touristengruppen gefallen, sondern sehr wohl auch wieder Ausgrabungen und Uraufführungen. Zuletzt vergab er einen Kompositionsauftrag an Olga Neuwirth, deren Vertonung von Virginia Woolfs „Orlando“ am 8. Dezember an der Staatsoper aus der Taufe gehoben werden soll.
Die Speerspitze der französischen Alte Musik-Szene erobert einen heiligen Orchestergraben
Meyers eher stille Revolution vollzieht sich allerdings an einer ganz anderen Front. Er erlaubt sich, was im Graben der Wiener Staatsoper vor seinem Amtsantritt im Jahr 2010 als undenkbar, als Sakrileg galt. Er lädt, während die Wiener Philharmoniker auf Tournee sind, Spezialensembles ein, im hochgefahrenen Orchestergraben Barockopern mit historischen Instrumenten zu spielen. Zumal die Speerspitze der französischen Alte Musik-Szene, mit der er seit seiner Zeit am Théâtre des Champs-Élysées im Paris persönlich bestens bekannt ist, gastiert nun an einem gleichsam heiligen Ort, an dem selbstverständlich nur „die Wiener“ ihren Dienst an der Kunst versehen durften. Nach Marc Minkowski und dem amerikanische Wahlfranzosen William Christie ist derzeit Christophe Rousset mit seiner herrlichen Truppe der Historischen Aufführungspraxis im Haus am Ring zu Gast: Les Talens Lyriques bringen Georg Friedrich Händels „Ariodante“ mit dem ganzen Wissen und der ganzen Liebe zur Barockmusik authentisch zur Aufführung.
Christophe Rousset am Pult von Les Talens Lyriques ist kein Emotionsextremist, sondern ein sensibler Stilist
Dabei ereignet sich Erstaunliches: Denn Les Talens Lyriques adeln ihren Händel mit so eleganter Grazie, solcher dynamisch differenzierten Raffinesse, derart traumwandlerischer Intonation der vibratobefreiten Streicher und einer solch charakteristischen Farbgebung der Holz- und Blechbläser, dass ihr Orchesterspiel sie zum heimlichen, nie angeberisch auftrumpfenden, dafür im besten Sinne stillen Star des Abends macht. Christophe Rousset am Pult ist dabei kein Emotionsextremist all der dramaturgisch fein motivierten Händel-Affekte, sondern ein sensibler Stilist, der sich Zeit lässt, die multiplen Schönheiten der hier vollkommen ungekürzt aufgeführten Partitur zum Klingen und Schwingen zu bringen. Rousset stellt Intensität durch Innigkeit und Intimität her, nie durch ein plumpes sportives Schneller und Höher. Er macht dem Namen seines Ensembles somit alle Ehre. Wenn Händel fetzig wird, übertreibt er nichts, sondern musiziert ihn federnd, geschmeidig, edel und lustvoll inspiriert aus.
In Ariodantes Arienhit „Scherza infida“ schmiegen sich die düsteren Seelentöne der Fagotte gleich einem souligen Saxofon dem Mezzosopran von Stephanie Houtzeel an
Wenn die Inszenierung von David McVicar in der Wiederaufnahme-Premiere, die nun erstmals Les Talens Lyriques musikalisch gestalten, zwischen den Mittelaltermauern von Vicki Mortimer eher gediegen unfallfrei als hochspannend abschnurrt, dürfte das weniger an der Regie vom Februar 2018 (wir berichteten) liegen, sondern am Repertoiresystem der Wiener Staatsoper. Es sieht für die enorme Vielfalt an Produktionen abseits von Neuinszenierungen nicht mehr als zwei Probentage vor. Da die meisten Partien jetzt neu besetzt und die Sänger nicht aufeinander eingespielt waren, verblüfft zumal das musikalische Ergebnis noch mehr. Stephanie Houtzeel aus dem Staatsopernensemble steht in der Hosenrolle der Titelpartie auf der Bühne und bringt dabei ihre szenische Erfahrung als Octavian in Richard Strauss „Der Rosenkavalier“ gewinnbringend ein. Sie gestaltet nie übertrieben, sondern aufrichtig, einfühlsam und warm. In ihrem Arienhit „Scherza infida“ schmiegen sich die düsteren Seelentöne der Fagotte gleich einem souligen Saxofon ihrem Mezzosopran an – so wird ihr Zu-Tode-Betrübtsein berührend vermittelt. Herrlich, wie Rousset immer wieder Stimme(n) und Orchester verzahnt. An der Prägnanz der italienischen Konsonanten dürfte Stephanie Houtzeel aber gern weiter arbeiten.
Chen Reiss betört mit dem perlmuttschimmerndem Timbre ihres Soprans
Mit Chen Reiss gibt ein weiteres Gewächs der Wiener Staatsoper die Ginevra, Gattin des Ariodante. Die Israelin betört erneut mit ihrem lyrisch liebreizenden geläufigen Sopran, dessen perlmuttschimmerndes Timbre entzückt. Dem intriganten Polinesso leiht Max Emanuel Cenčić seinen Countertenor. Die Alt-Partie liegt tief, wodurch der Österreicher seine Kopfstimme weit nach unten ziehen muss, die warmen Farben seiner gut ausgebauten Mittellage bringt er aufregend dunkel zum Leuchten, die entsprechend tiefen Koloraturen lädt er dramatisch auf. Hila Fahima bringt wie bereits in der Premiere leicht sprudelnde Soubrettentöne für die Dalinda ein, herrlich hohe Tenortöne verströmt Josh Lovell als Lurcanio, Peter Kellner ist ein mit schönen Zwischentönen aufwartender bassnobler König von Schottland.
Wiener Staatsoper
Händel: Ariodante
Christophe Rousset (Leitung), David McVicar (Regie), Vicki Mortimer (Ausstattung), Colm Seery (Choreografie), Stephanie Houtzeel, Chen Reiss, Hila Fahima, Max Emanuel Cenčić, Josh Lovell, Peter Kellner, Carlos Osuna, Les Talens Lyriques