Die neue Magdeburger Mozartoper „La clemenza di Tito“ ist ein Stück zur Stunde. Aber anders, als man es bei einem Regisseur wie Dietrich Hilsdorf erwarten könnte. Er gehört zu jenen Regie-Altmeistern, die es immer wieder verstehen, Zeitgenossenschaft subtil durch die Opulenz seiner Bilder scheinen zu lassen. Für diese Spielzeiteröffnung hat er jetzt obendrein versucht, offensiv mit den geltenden Anticoronaregeln umzugehen. Also den Abstand zwischen den Protagonisten auf der Bühne zu wahren. Oder Masken für das Personal einzusetzen. So zum Beispiel, wenn der Kaiser-Attentäter abgeführt werden, und man dabei den Delinquenten körperlich anpacken muss. Oder, wenn er den Chor auf den fürs Publikum gesperrten Rang verlegt.
Dass es nicht unbedingt die schlüssigste Lösung ist, in einer rigiden Einbahnstraßenregelung das auf rund 170 Köpfe beschränkte Publikum von einer Seite aus die Parkettreihen ohne Mittelgang betreten zu lassen, ist eine andere Sache. Denn niemand regelt das Nacheinanderbetreten entsprechend der Platznummern. So dass mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit mehr Nähe beim Vorbeidrängeln entsteht, wenn jeder auf seinen Platz zustrebt, als sie sich ergäbe, wenn man den Zugang von links und rechts zuließe. Die Magdeburger Regelung sieht aus, als wäre sie vom Schreibtisch aus ersonnen. Ohne allzu große Praxiserfahrung mit dem Verhalten von Opernbesuchern beim Weg auf und von ihrem Platz. Aber sei’s drum. Es gibt eine ganze Oper. Mit Pause und sogar mit Gastronomie. Das bietet auch nicht jeder. Zweieinhalb Stunden Mozart sind per se ein Gewinn. Noch dazu, wenn die musikalische Energie, die den Saal flutet, vor allem aber die Schlüssigkeit der Darstellung im Verlaufe des Abends deutlich zunimmt und am Ende, nach anfänglichen Beiläufigkeiten im Ganzen überzeugt.
Vom Diktat der Güte aus politischem Kalkül
Mozart schrieb seine letzte Oper 1791 zur Krönung des „Reformkaisers“ Leopold II. Obwohl es ein zu hohem Anlass aufgeführtes reifes Meisterwerk ist, hatte es diese „letzte Oper“ in ihrem Bühnennachleben allein schon wegen des scheinbaren Rückgriffs auf die damals schon überwundene Seria-Form vergleichsweise schwer. Dabei bietet sie interessante Ansatzpunkte zum einem Nachspüren der mitschwingenden Angst vor dem Diktat der Güte. Was durchaus zu einem Menetekel möglicher Bedrohungen scheinbar geordneter Verhältnisse in einer strukturierten Gesellschaft werden kann.
„La clemenza di Tito“: Römische Ruinen und theatralische Gegenwart
Hilsdorf, der auch die Bühne entworfen hat, spürt zunächst den historischen Schichtungen nach. Er konfrontiert die Zeit der eigentlichen Handlung in Gestalt von römischen Ruinen auf den Prospekten, die die Spielfläche umstellen, mit der Entstehungszeit von deren Mode die Kostüme von Carola Volle inspiriert sind. Gleichzeitig führt er das Ganze aber als ein gegenwärtiges Theaterereignis vor, denn für alle Protagonisten steht ein Schminktisch mit beleuchtetem Spiegel bereit. Der Vorhang im rechten Teil der Bühne ist obendrein eine Art Wink mit der Brechtgardine. So nach dem Motto: Seht her, ich führe etwas vor, und ihr sollt drüber nachdenken. Wenn dieser Vorhang schließlich auf- (bzw. zu-) gezogen wird, ist darauf ein Dämon zu sehen, der der ausführlich besungenen inneren Zerrissenheit von Sextus den Hintergrund liefert.
Der Kaiser und sein Bild in der Geschichte
Hilsdorf setzt weniger auf die große Haupt- und Staatsaktion (also ein Attentat aus persönlichen Motiven auf die bestehende Ordnung und der Umgang des Staates mit dessen Scheitern), als auf das Ausleuchten der individuellen Auswirkungen auf die Akteure. Der Kaiser bzw. Kaiserdarsteller setzt seine sprichwörtliche „Güte“ und „Milde“ bewusst als Machtmittel ein und führt vor, dass der sich mehr um sein Bild in der Geschichte oder um den Inhalt eines Glases Wein sorgt, als darum, zu ergründen, warum sein Freund Sextus ihm nach dem Leben getrachtet haben mag. In diesem Kontext genügt es am Ende des ersten Aktes, das brennende Kapitol mit einer Projektion flackernden Feuerscheins und einem umstürzenden Seitenelement, also mit einem eher bescheidenen Theatereffekt, anzudeuten.
Imperialer Habitus mit Selbstzweifeln und Selbstverliebtheit
Im Libretto von Caterino Mazzolà will Titus eigentlich eine Frau heiraten, die die Öffentlichkeit (der Präfekt Publius, der sonore Marko Pantelić ist die Stimme des Volkes) nicht akzeptiert, weil sie Ausländerin ist. Seine Wahl fällt ausgerechnet auf die Schwester seines besten Freundes Sextus, Servilia (Hyejin Lee), die ihrerseits Annius (mit jugendlichem Schneid: Isabel Stüber-Malagamba) liebt. Als Servilia sich dem Kaiser offenbart, gibt er sie frei. Emanuele D’Aguanno versucht zwar imperialen Habitus mit Selbstzweifeln und auch einer gewissen Selbstverliebtheit zu vermenschlichen, bleibt aber stimmlich oft mit einem gaumig nasalen Schleier über dem eigentlich angenehmen Timbre hinter der ansonsten herrschenden klaren Diktion des Ensembles zurück.
Als seine eigentliche Gegenspielerin ist die mit allen Mitteln selbst um die Macht (und den Thron ihres Vaters) kämpfende Vitellia bei der Magdeburger Haus-Primadonna Noa Danon bestens aufgehoben. Auch sie steigert sich bis zu ihrem großen Schlussgeständnis der eigenen Schuld. Dass Titus sie in einer jähen Wendung danach selbst zu seiner Gattin bestimmt, passt zum Einfrieren des Schlussbildes, mit dem Hilsdorf seinen historischen Exkurs über die Güte als Machtmittel enden lässt. Als Sextus pirscht sich Emilie Renard zunächst an die Rolle des Liebhabers, Kaiserfreundes und Attentäters heran. Und gewinnt – vokal souverän – Größe, wenn er seine wahren Gründe für den Verrat am Freund nicht preisgibt, um nicht noch mehr Schaden anzurichten und die Frau, die er liebt, auszuliefern. Renard liefert am Ende neben Danon die überzeugendste stimmliche und darstellerische Leistung des Abends.
Generalmusikdirektorin Anna Skryleva dirigiert vom Cembalo aus
Die neunzehnköpfige Mozart-Abordnung der Magdeburgischen Philharmonie betritt zu Beginn über den Zuschauerraum (von links und rechts) ihren Platz im Graben. Die Generalmusikdirektorin Anna Skryleva dirigiert vom Cembalo aus. Braucht allerdings (im Einklang mit dem Geschehen auf der Bühne) einige Zeit, um zu einem überzeugenden Mozartsound zu finden. Am Ende gehen Orchester und Protagonisten Schulter an Schulter (bzw. Ton an Ton) durchs Ziel und geben mit dem letzten Ton und dem Einfrieren der Bühne den Weg zum Nach-Denken frei.
Theater Magdeburg
Mozart: La Clemenza di Tito
Anna Skryleva (Leitung), Dietrich W. Hilsdorf (Regie & Bühne), Carola Volles (Kostüme), Ulrike Schröder (Dramaturgie), Emanuele D’Aguanno, Noa Danon, Emilie Renard, Hyejin Lee, Isabel Stüber Malagamba, Marko Pantelić, Opernchor des Theater Magdeburg, Magdeburgische Philharmonie