Ob Händels „Giulio Cesare“, Donizettis „Anna Bolena“ oder Bergs „Wozzeck“: Historische Figuren und realgeschichtliche Ereignisse sind seit Anbeginn des Musiktheaters eine begehrte Inspirationsquelle für gute Opernstoffe. Vor allem Biblisches und Antikes erfreute sich in jedem Jahrhundert größter Beliebtheit. Doch auch personale Vorbilder aus der jüngeren Geschichte bis hin zur Gegenwart werden immer wieder im großen dramatischen Rahmen thematisiert. Der Mai hält gleich mehrere Opern-Uraufführungen bereit, deren jeweilige Handlung von realen Figuren der Vergangenheit inspiriert ist.
Am weitesten wird die Zeit am Theater Freiburg zurückgedreht. Der niederländische Gelehrte Erasmus von Rotterdam war ein Zeitgenosse Martin Luthers und gewissermaßen hautnah dabei, als der reformatorische Konflikt zwischen dessen Anhängern und den herrschenden Vertretern der Kirche entbrannte. Obwohl Erasmus ein einflussreicher Mann war, entzog er sich in dieser Sache jeglicher Stellungnahme. In „The Folley“ behandelt GMD und Komponist Fabrice Bollon damit eine alte, aber stets aktuelle Frage: Wie lange darf man wegsehen und ab wann ist man verpflichtet, einzugreifen? Es ist bereits Bollons zweites Werk, das in Freiburg zur Uraufführung gelangt.
Zwischen den Genres
1682 hatte der Musiktheoretiker Andreas Werckmeister mit der Erfindung der wohltemperierten Klavierstimmung den Versuch unternommen, eine chaotische Welt in geordnete Formen zu zwängen. Dass dies letztlich ein hoffnungsloses Unterfangen war, demonstriert Theaterkünstler Thom Luz in den „Werckmeister Harmonien“ an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. Gemeinsam mit dem musikalischen Leiter Mathias Weibel hat der Schweizer eine besondere Theater- und Musiksprache entwickelt, die sich grenzübergreifend zwischen verschiedenen Genres bewegt.
In der Oper „Galen“ gibt es am Theater Münster neben den geschichtlichen auch regionale Bezüge: Der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen war seinerzeit der einzige katholische Würdenträger, der sich öffentlich gegen den Nationalsozialismus stellte, wofür er 2005 seliggesprochen wurde. Gleichzeitig wirft man ihm jedoch vor, Befürworter des Krieges sowie Gegner des Bolschewismus gewesen zu sein und sich nicht gegen die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung eingesetzt zu haben. Die Darstellung der Komplexität und Zerrissenheit dieser Persönlichkeit, der Grat zwischen Verehrung und scharfer Kritik stellt den Komponisten Thorsten Schmid-Kapfenburg und Regisseur Holger Potocki vor eine besondere Herausforderung.
Der australische Komponist und Regisseur Ben Frost setzt überdies ein düsteres Ereignis der jüngsten Zeit an der Staatsoper Hannover in Szene und Musik. Am 6. April 2006 wurde Halit Yozgat von NSU-Mitgliedern in einem Internetcafé in Kassel ermordet. Die anschließenden Gerichtsprozesse ließen jedoch viele Fragen offen. Anhand von Zeugenaussagen, Bildern, Geräuschen, Videos und Raum-Zeit-Abfolgen sollen in „Der Mordfall Halit Yozgat“ die damaligen Tatgeschehnisse in allen Varianten rekonstruiert, dabei einerseits Fragen beantwortet, gleichzeitig aber auch neue Fragen aufgeworfen werden.