Wünsche und Visionen kennen keine Grenzen, schon gar nicht, wenn Künstler sie haben, die ihre Fantasie sprudeln und ihren Ideen freien Lauf lassen. Doch der Rahmen für Grenzsprenger ist seit März 2020 mindestens so spürbar geschrumpft, wie die Distanzregeln erweitert wurden. Die Anpassung an die neue Normalität bringt freilich nicht nur die schmerzliche Reduzierung von Ansprüchen mit sich, sie birgt auch die Chance, das sonst so maßlos mit seinen Mitteln wuchernde Musiktheater auf seinen Wesenskern zu fokussieren – warum nicht einfach mal auf zwei singende Menschen, die uns von der Liebe in all ihrer krassen Absolutheit berichten?
Tristan und Isolde sind so ein Paar, das die Grenzen des Anstands und der Sitte in den Wind einer Sommernacht schießt und sich vollkommen hingibt. Richard Wagner schwebte in seiner Vertonung der ins Unendliche strebenden Liebesgeschichte ein Kammerspiel vor, das dann aber letztlich doch ein paar Nummern gigantischer geriet. Am Aalto Theater Essen wird der grandiose Liebeswahn nun kammermusikalisch eingedampft in einer anderthalbstündigen Bearbeitung der Handlung, die sämtliche Nebenfiguren eliminiert und ganz auf die großen Monologe und Duette von „Tristan und Isolde“ vertraut. In den Titelpartien des mit „Tristan XS“ übertitelten Abends sind ab 2.10. mit Daniela Köhler und Daniel Johansson zwei ausgewiesene Wagner-Experten zu erleben, die ihre Rollendebüts geben.
An der Deutschen Oper am Rhein übernimmt der gefragte Regisseur Johannes Erath eine ähnliche Erkundung des Wesentlichen, wenn er in Düsseldorf unter dem Titel „Vissi d’arte“ und mit Musik von Puccini, Strauss, Verdi und Wagner eine szenisch-musikalische Zustandsbeschreibung über die nun endlich erkämpfte Auferstehung des Bühnenraums und seiner Zauberdinge ersinnt (ab 2.10.). Er reflektiert die unmöglichen Möglichkeiten des Bühnenkusses, die Spielarten der Nähe, den Zauber des ersten Tons und die Stolperkanten der auf Abstand getrimmten Bühnenhygiene. Ein Abend über die Liebe in der Oper und die Liebe zur Oper.
Neue Bescheidenheit
Am Nationaltheater Mannheim wiederum mündet die neue Bescheidenheit der eigentlich niemals wunschlos glücklichen Opernmacher ins Konzept der White-Wall-Oper, die jenseits gewohnter Ausstattungsopulenz und in Beschränkung auf jeweils neunzig Minuten auch Opernklassiker wie Puccinis „Madame Butterfly“ (ab 4.10.) oder Rossinis „Der Barbier von Sevilla“ (ab 1.11.) in neuem Licht erscheinen lässt. Gleich einem weißen Blatt Papier bilden weiße Wände den Hintergrund für Projektionen von Video- und bildenden Künstlern sowie Zeichnern. Davor sorgen die Sängerinnen und Sänger des bekanntlich großen und exzellenten Ensembles für musiktheatralische Magie.
Das Wesentliche im Namen trägt auch der Ansatz der Semperoper Dresden, wo Repertoireschlachtrösser wie „Madama Butterfly“ (ab 26.9.) oder „Tosca“ (ab 3.10.) in anderthalb Stunden unter der Marke „Semper Essenz“ konzertant über die Bühne gehen. So gelangen die Heroinen zu einem etwas früheren Bühnentod als bislang üblich. Sängerstars wie die lettische Sopranistin Kristine Opolais als Tosca sorgen dabei für vokalen Glanz im Elbflorenz.