Wer das Wagnis eingeht, Mozarts Schwanengesang in Szene zu setzen, muss wissen, was er nicht will, ja, was sich womöglich gar verbietet. Denn die Kitsch-, die Klischee- und die Katechismusgefahr ist einfach zu groß. Mozarts Biografie mit der einst in „Amadeus“ filmisch ausgedeuteten Legende um den geheimnisvollen Auftraggeber des „Requiem“ führt ebenso aufs Glatteis wie eine zu sehr am liturgischen lateinischen Text entlangbebilernde pseudoreligiöse Anverwandlung. Auch ein Musiktheater der individuellen Schicksale, wie es Calixto Bieito in seiner Inszenierung von Verdis „Messa da Requiem“ versuchte, bietet sich hier kaum an. Zu sehr zielt Mozart auf allgemeingültige, im Kollektiv des Chores verhandelte Wahrheiten. Nach Choreografen wie John Neumeier und Regisseuren wie Romeo Castellucci machte sich nun mit Yoann Bourgeois ein Akrobat, Schauspieler und Tänzer an eine Umsetzung. Vor den Toren von Paris im Musentempel von La Seine Musicale erlebte seine Deutung nun ihre Uraufführung mit dem Residenzensemble des Konzerthauses, dem Insula Orchestra unter seiner Leiterin Laurence Equilibey, sowie dem Chor accentus.
Gegenanrennen gegen das Unausweichliche wie Unaussprechliche des Sterbenmüssens
Mozarts „Requiem“ als Zirkusspektakel? Kann das gut gehen? Kann es. Der Abend wurde ein Triumph. Nicht zuletzt, weil Yoann Bourgeois sich im Gebrauch seiner opulenten Mittel zwischen Zurückhaltung und Spektakel für erstere entscheidet – und dabei dennoch zu spektakulären Lösungen findet. Seine Bühne ist ein großer Wurf, ja, sie ähnelt einer schwarzen Skischanze, die ein überaus klares Oben und Unten kennt. Himmel und Hölle? Lemurenartige Menschenleiber rutschen und fallen jedenfalls immer wieder diesen Abgrund hinunter, verschwinden zu Beginn sogar in den schwarzen Löchern der gigantischen Installation, deren Hauptfläche eine Drehbühne bildet, die sich in Tempi aller Arten wendet, mal synchron, mal gegenläufig zur Musik vom ewigen Kreislauf unseres Daseins kündet, vom Gegenanrennen gegen das Unausweichliche wie Unaussprechliche des Sterbenmüssens, des unaufhörlichen Verrinnens der Lebenszeit erzählt.
Brutale Bibelbilder von Paradies, Fegefeuer und Hölle in choreografischer Abstraktion
Dieses Verschluckt- und Eingesaugtwerden als umgekehrter Geburtsvorgang hat archaische Wucht. Der Versuch, sich dem zu entziehen und wie Sisyphos ohne Aussicht auf Erfolg den Berg wieder hochzuklettern, zeugt vom mythengetränkten Ansatz des Yoann Bourgeois. Man glaubt, er würde hier jene brutalen Bibelbilder des Mittelalters von Paradies, Fegefeuer und Hölle, die sich in der orthodoxen Kirche bis heute erhalten haben, in seine choreografisch abstrakte Szene setzten. „Dies Irae“, der Tag des Zorns, wird durchaus deutlich vermittelt, freilich eher im Stile eines mit Gesten und Zeichen arbeitenden Achim Freyer als im Sinne eines blutspritzenden Naturalismus eines Calixto Bieito. Yoann Bourgeois zwingt uns keine Deutung auf, er bezieht nicht ethisch Stellung, er betont ganz die Offenheit des Kunstwerks, das Mozart schließlich unvollendet hinterlassen hat und das hier auch als Fragment erklingt, unter Auslassung der Süßmayr- (oder einer anderen) Vervollständigung.
Die Verschmelzung der Mittel von Tanz, Gesten und Gesang, Akrobatik, Licht und lebenden Bildern gerät zwingend
Dennoch ist die spannungspralle Deutung abendfüllend. Antoine Garry hat die Leerstellen als Mozart elektronisch verfremdender Klangkreateur gleichsam benannt und damit den Tänzern gleichzeitig Brücken der Entfaltung und Intensivierung ihrer Aktionen gebaut. Da wummern die Bässe, und das ewige Rad des Lebens in Form der im hetzenden allegro knarzenden Drehbühne rast weiter. Menschliche Ur-Motive, Andeutungen religiöser Ikonografie, die pure Gewalt von stürzenden Bewegungen und die Intimität umarmender Gesten – alles mischt sich wie selbstverständlich zum transdisziplinären Gesamtkunstwerk. Die Verschmelzung der Mittel von Tanz, Gesten und Gesang, Akrobatik, Licht und lebenden Bildern gerät zwingend. Und wird zu einem zeitlosen Nachsinnen über die Zeit. In das wir Bilder hineinprojizieren können, die uns selbst beim Nachdenken über die (Todes-) Märsche der Geschichte einfallen. Formierte sich der Chor da zur endlosen Schlange von Flüchtlingen auf dem Weg in den gelobten Westen? Oder werden da nicht etwa Menschen in die Vernichtung von Konzentrationslager geschickt? Die Stärke der Arbeit von Yoann Bourgeois liegt darin, dass er Assoziationsräume eröffnet, statt sie platt vorzuzeichnen. Selbst wenn er die Grenze des sportiv Dekorativen streift und einfach nochmal eine Menschenmenge des schwarzen Abhang hinunterpurzelt, bleibt dieses „Requiem“ ein musiktheatralischer Wurf, der tief berührt und sich ins Gedächtnis eingräbt.
Akzentuiert und geschmeidig zugleich ist Equilibeys Mozart
Die faszinierende musikalische Deutung von Laurence Equilibey geht Hand in Hand mit der szenischen. Ihr auf historischen Instrumenten spielendes Insula Orchestra bringt in dieser Urfassung des Mozart-„Requiems“ fürwahr dessen Essenz zum Ausdruck. Die entschlackte, auf das Wesentliche reduzierte, von Mozart nicht mehr ausgearbeitete Instrumentierung, aus der oft das Skelett des Orgelklangs herausragt, aber im Falle der butterweich geblasenen Posaune im „Tuba mirum“ auch Solostimmen himmlisch emportreten, lassen uns die sattsam bekannt geglaubten Töne neu hören. Akzentuiert und geschmeidig zugleich ist Equilibeys Mozart. Ein Sonderlob für den auch szenisch enorm geforderten accentus-Chor mit seinem wunderbar plastischen Klangbild sowie Bass-Solist Christian Immler als König des Gesangsquartetts.
Insula Orchestra
Mozart: Requiem
Laurence Equilibey (Leitung), Yoann Bourgeois (Regie & Bühne), Yurié Tsagawa (Künstlerische Assistenz), Sigolène Petey (Kostüme), Jérémie Cusenier (Licht), Antoine Garry (Klangkreation), Héléne Carpentier (Sopran), Eva Zaicik (Alt), Jonathan Abernethy (Tenor), Christian Immler (Bass), Guilhem Chatir, Sonia Delbost-Henry, Nicolas Mayet, Jean-Yves Phuong, Sarah Silverblatt-Bluser, William Thomas, Yurié Tsugawa, Marie Vaudin (Darsteller), accentus (Chor), Insula Orchestra