Selbst indisponierte Tenöre und zickende Diven, fast schon abgereiste Regisseure und sich mit letzteren verkrachende Dirigenten können eine der ältesten Theaterregeln nicht außer Kraft setzen: „Der Lappen muss hoch.“ Premierenpech und Primadonnenpannen mögen zum Geschäft gehören. Aber abgesagte Vorstellungen gehen gar nicht. Doch derzeit ist das Unmögliche, ist die absolute Ausnahme zur wochenlangen, womöglich Monate andauernden Realität geworden. Es ist mausestill geworden auf den Brettern, die den Opernfreunden die Welt bedeuten. Just zum Redaktionsschluss der concerti Mai-Ausgabe erreichte uns gar die Hiobsbotschaft einer wahren Götterdämmerung: Die Bayreuther Festspiele 2020 sind abgesagt. Das bedeutendste Opernfestival der Republik macht dicht. Die Neuinszenierung von Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“, die mit ihren vier Abenden entsprechend langer Probenvorläufe bedarf, wurde gar auf 2022 verschoben.
Bei Fans wie Opernkritikern machen sich erste Entzugserscheinungen bemerkbar. Doch die nächste Dosis von mit Spannungsknistern erwarteten Neuproduktionen ist nicht in Sicht, die Sehnsucht nach der mit Sängerstars gespickten Aufführungsserie wird mitnichten erfüllt. Enthaltsamkeit ist angesagt. Einsicht in das Unvermeidliche ist gefragt. Doch was passiert da eigentlich gerade mit uns Junkies des Musiktheaters? Welchen Perspektivwechsel müssen wir jetzt bitter lernen? Walter Benjamin hat ihn bereits 1935 medienkritisch reflektiert in den diversen Versionen seines Aufsatzes „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Zwar hatte der Philosoph damals im Besonderen die bildenden Künste und das seinerzeit noch neue Medium des Films im Visier, doch er beobachtete absolut aktuelle Phänomene: „Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet.“
Er spricht von der Aura des Kunstwerks und seiner Magie. Dessen Authentizität ereignet sich im Falle der darstellenden Künste in der Einmaligkeit der Aufführung, im Gemeinschaftsgefühl der Lauschenden und Schauenden, im Austausch eines Energie- und Wärmestroms zwischen Künstlern und Publikum. Zu diesem geradezu kunstreligiösen Ritual des gemeinschaftlichen Erlebens und Erleidens gehören dann, pardon, auch mal hustende Sitznachbarn oder an der falschen Stelle klatschende Ignoranten.
Erzwungener Perspektivwechsel
Die öffentliche Rezeption von Kultur hat auch mit Freiheit und persönlichen Entscheidungen zu tun: Fokussieren wir unsere Sinne heute auf den berührenden Stimmzauber der Sopranistin oder auf das überwältigende Bühnenbild, auf die sanfte Nebenstimme der Bratschen oder das symbolisch aufgeladene Trompetensignal? Im erzwungenen Perspektivwechsel der Rezeption vom Live-Genuss im Opernhaus zum Konserven-Konsum im trauten Heim hilft uns die Dosennahrung von DVDs und CDs über die Durststrecke hinweg – mit der Hoffnung am Horizont, dass wir nach dem Ende des kulturellen Shutdowns umso mehr Hunger auf das wahre Ding haben werden.
Für eine gelungene Mischung aus magischer Live-Anmutung und „technisch reproduzierter“ digitaler Vermittlung sorgt indes einstweilen die ungebremste künstlerische Kreativität von Kulturschaffenden. Willkommene Ersatzdrogen sind die kurz vor den Theaterschließungen noch vor leeren Rängen mitgeschnittenen und nun im Fernsehen gesendeten Vorstellungen, sind die gratis geöffneten Archive, die über eigene Streamings der Opernhäuser verfügbar sind, oder die launigen, fix produzierten Küchenopern-Videos. Der generelle Verlust von Freiheitsrechten wird durch eine andere Form der Entscheidungsmöglichkeiten wettgemacht: Wir können wählen, uns ganz spontan nach Laune den persönlichen Spielplan zusammenstellen – darf es heute ein Häppchen Puccini-Schmachten sein? Morgen ein mit Wagner-Dramatik gefüllter Magen? Oder doch einfach nur ein digitaler Blick durchs Schlüsselloch hinter die Kulissen und Betriebsgeheimnisse dieser wunderbaren Kunst?