Ganz am Ende blicken uns Friedensfürst Gandhi, Psychopapst Freud und Sexsymbol Monroe an. Eine bunte Kinderschar hat zuvor die Bühne bevölkert – jene „Ungeborenen“, die durch die Unlust der Frauen, Mütter zu werden, erst jetzt die C-Dur-apotheotische Gnade der verspäteten Geburt feiern dürfen, nun, da die Fragen nach dem wahren Menschsein doch noch positiv beantwortet werden. Das hohe Paar von Kaiserin und Kaiser sitzen gemeinsam mit dem niederen Menschenpaar, dem Färber Barak und seiner namenlosen Frau, am gut bürgerlichen Esstisch und stoßen mit einem Glas Roten aufs Happy End an. Alles gut?
Ja, es ist schon schwierig mit all jenen tragisch verwickelten Opern, die auf einmal mit der Klangbeschwörung einer heilen Welt schließen. Was für Beethovens Fidelio gilt, trifft auch auf Die Frau ohne Schatten zu, mit der Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss der Fin de Siècle-Depression am Ausgang des 1. Weltkrieges ihre moderne Zauberflöte entgegentönen ließen. Dem psychologisch hoch komplexen und dennoch märchenhaft einfachen, textlich verschrobenen, dissonanzenstarrenden und gleichwohl harmonietrunkenen Opernding musikalisch und szenisch beizukommen, gehört zum schwierigsten, was sich Opernhäuser zumuten können. Zum 50. Geburtstag des wiedereröffneten Münchner Nationaltheaters und dem zeitgleichen Amtsantritt des neuen Generalmusikdirektors Kirill Petrenko musste es aber schon eine Herausforderung der Extraklasse sein, die nicht zuletzt mit der Historie des Hauses in Einklang steht. Anno 1963, wie jetzt exakt am 21. November, stand das Menschwerdungswerk auf dem Spielplan.
Eben jene rückblickend ganz schön spießige und mit reichlich deutschen Traumata beladene bundesrepublikanische Epoche greift Regisseur Krzysztof Warlikowski nun in seiner Bildwelt auf. Eine Einspielung aus dem 60er-Jahre-Streifen „Letztes Jahr in Marienbad“ eröffnet den Abend. Ein Kurbad, in dem die Damen und Herren einer ziemlich gelangweilten Oberschicht der Wirklichkeit entfliehen und sich schon mal einen Kurschatten anlachen, führt einen Mann und eine Frau mit traumatischer Vergangenheit zusammen. Die Inszenierung greift diese Atmosphäre später als Reflex auf Thomas Manns Zauberberg-Sanatorium auf. Die Frau ohne Schatten-Mischung aus Märchenhaftem, Verdrängtem und Freudianischem passt da sehr gut hinein, die zeitlichen Parallelen zwischen der Werkentstehung und dem Denken und Dichten von Freud und Mann stimmen sowieso. Der Designer-Schick und die High-Society-Roben der Ausstatterin Malgorzata Szcezsniak akzentuieren ihrerseits die frühen 60er, als München endlich wieder vollends leuchtete – mit seinem originalgetreu wiedererstandenen Opernhaus, das sich der Tradition und seinen Hausgöttern Mozart, Wagner und Strauss erneut verpflichtete. Ein Regisseur, der die Geschichte des Hauses soweit mitdenkt, verdient schon deshalb unsere Achtung. Sehr geschickt hält Warlikowski Realität und Traumebene in der Schwebe. Klug meidet er jeden Märchen-Kitsch. Dass im Laufe des langen Abends dann doch nicht jede Beziehung psychologisch plausibel ausgeleuchtet wird, schmerzt dabei nur wenig, zumal hier eine dem Hause gemäße Spitzenbesetzung agiert, aus der nur die späte Deborah Polaski als mephistophelische Lady Amme herausfällt: In der kaum noch anspringenden Mezzo-Mittellage rettet sie sich ins leise Deklamieren, oben ist nur noch Wobble. Sei’s denn. In Polaskis einstiger Parade-Partie, der Färberin, trumpft Elena Pankratova als sexuell unbefriedigte Underdog-Schlampe mit ihrem nie überscharfen dramatischen Sopran auf. Ihren Mann muss Wolfgang Koch als prolligen Hausmeister, der über den Waschsalon des Sanatoriums herrscht, spielen. Er stattet den Barak freilich mit beeindruckender Bariton-Kernigkeit aus. Eine gewohnt sichere Bank ist Johan Botha als gewichtiger Kaiser mit nimmermüde mühelosem Tenorstrahl. Die Kaiserin der Adrianne Pieczonka aber kommt schlichtweg einer Idealbesetzung gleich. Die Menschwerdung einer Pelzmantel-Tussi spielt sie so unerhört anrührend und gestaltet sie mit ihrem gefühlsdurchdrungenen Luxussopran so nuanciert, mit so jubelnden hohen Cs und einer so sublimen Textausdeutung, das man ganz unzeitgemäß niederknien will vor dieser großartigen Sängerdarstellerin.
Mehr als heimliche Hauptperson des Abends freilich ist Kirill Petrenko. Als Pathosverweigerer und Präzisionsfanatiker weiß der junge, vom Erfolg verwöhnte Russe am Pult des glänzend aufgelegten Bayerischen Staatsorchesters immer auch um die Untiefen der herrlichen Partitur. Wenn im baritonseligen „Mir anvertraut“ Sentiment droht, zieht er das Tempo an und führt den Strauss-Hit auf seine Lied-Innigkeit zurück. Wenn die Holzbläser stichelnd so viel mehr von den nervösen Neurosen der Figuren offenbaren, als denen lieb ist, spitzt er hingegen die Modernität der Musik detailversessen zu. Wenn der Strauss‘sche Orchester-Riesenapparat hingegen immer wieder zu vorschnellen Fortissimo-Höhepunkten verleitet, kostet er Piani aus und verzögert die Klang-Eruptionen, die er sich, extra fein disponierend, fürs furiose Finale aufspart. Will man dennoch beckmessern, dann darf man hier einschränken: Würde Petrenko gelegentlich die Musik mal laufen lassen, die Kontrolle reduzieren und ganz große Bögen zulassen, dann würde aus einer genialischen gar eine geniale Interpretation. Aber dieser Abend markiert ja erst den Anfang einer Ära. Luft nach oben muss es ja auch hier noch geben.
Bayerische Staatsoper
Strauss: Die Frau ohne Schatten
Ausführende: Kirill Petrenko (Leitung), Krzysztof Warlikowski (Inszenierung), Malgorzata Szcezsniak (Ausstattung), Johan Botha, Adrianne Pieczonka, Deborah Polaski, Sebastian Holecek, Wolfgang Koch, Elena Pankratova
Termine: 28.11., 18:00 Uhr; 1.12., 18:00 Uhr (Live-Stream auf STAATSOPER.TV und zeitversetzte TV-Übertragung auf 3sat); 4.12., 18:00 Uhr; 7.12., 17:00 Uhr, 29.6.14, 17:00 Uhr; 3.7.14, 18:00 Uhr
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