Die uralte Lust an der Travestie feiert in der schau- und hörlustigen Barockoper sinnenpralle Höhepunkte. Kastraten beflügelten die Fantasie, Geschlechtergrenzen durchlässig zu machen. Der Kitzel des Überraschenden und Verbotenen, die karnevalisierende Lust an Rollentausch und sexuellen Übertretungen anständiger Liebe trieb ein neugierig sensationsgeiles Publikum in die ziemlich unanständigen Theater. Die offizielle Mätressenwirtschaft am Hofe spiegelte real, was auf der Bühne verblüffend frei nur unter dem Deckmantel einer antiken Göttergeschichte gespielt werden durfte.
Langhaarige Selbstdarsteller geben sich ein bitterböses Stelldichein
Übersetzungen solcher barocker Spektakel in die orgienfreudige Gegenwart der Clubs unserer Zeit sind so naheliegend wie oft auch billig. Calixto Bieito freilich gelingt an der Oper Stuttgart gemeinsam mit der Choreographin Lydia Steier, der Bühnenbildnerin Susanne Gschwender und der Kostümbildnerin Anna Eiermann eine grandiose Übertragung in einen angesagten Nachtclub der 70er Jahre. Wie einst in Jean-Philippe Rameaus Frankreich des 18. Jahrhunderts geben sich hier allerhand langhaarige, mit rüschigen Manschetten, breiten Krägen und engen Hosen wie extra hohen Absätzen ausstaffierte Selbstdarsteller ein Stelldichein. Nur einer ist anders in dieser zügellosen Party-Gesellschaft: Platée, die hässliche Sumpf-Nymphe, die im Glauben an die eigene Attraktivität die böse Intrige des Jupiter erst am tragischen Ende kapiert: Der Gott spielt seiner chronisch eifersüchtigen Gattin Juno die Hochzeitszeremonie mit Platée schließlich nur vor, um seine Frau in einem gemeinsamen Lachen mit ihm zu versöhnen.
Phallisch pralle Anzüglichkeiten
Durch Bietos Entscheidung, die Titelpartie mit einem Tenor zu besetzen, der die Nymphe als Transvestit spielt, bringt seine Inszenierung die schillernde wie ungewöhnliche Grundanlage des Stücks in die perfekte Balance aus Tragédie en musique und komischer Oper. Zunächst entzündet er dazu ein erotisches Feuerwerk voller phallisch praller Anzüglichkeiten. Herrlich überdreht schnurrt der Abend ab, frech, respektlos, sogar mit Mut zur Ausstellung von Hässlichkeit oder besser: von Andersartigkeit.
Tenor Thomas Walker als Platée ist ein sängerdarstellerisches Ausnahmeereignis
Thomas Walker als Platée ist dieser „Andere“, der Außenseiter in einer Gemeinschaft, in der für eine Nacht eigentlich alles erlaubt ist. Der britische Tenor wird zum sängerdarstellerischen Ausnahmeereignis. Das Versatile, das Bewegliche und unglaublich Farbenreiche seines gleißenden Tenors stellt er in den Dienst einer überwältigend intensiven Figurenzeichnung dieser armen, nach Liebe hechelnden Kreatur, die auch schon mal mit einzelnen Herren in der ersten Parkettreihe flirtet. Der Absturz zur tragischen Figur eines bitter Zurückgewiesenen wirkt dann am Ende umso erschütternder. Da bleibt einem nicht nur für einen Moment der Atem stehen.
Bieito glückt ein musiktheatralischer Ausnahmeabend
Die szenische Dichte entspricht der musikalischen. Denn die Oper Stuttgart beweist, dass ein Opernhaus, das auch ohne Star-Zirkus zu den ersten der Republik gehört, wie selbstverständlich nicht nur das klassisch-romantische Kernrepertoire, sondern auch die Repertoire-Ränder auf Weltniveau aus großteils eigenen Ensemble-Reihen zu besetzen weiß. Unter Hans Christoph Bünger musiziert das Staatsorchester Stuttgart einen vitalitätssprudelnd tänzerischen Rameau auf dem Motivationsniveau der besten Originalklangensembles. Die Sänger beleben ihren Rameau mit einer gleichsam endgrenzten, emotionsgeladenen Virtuosität. Nur beispielgebend seien hier neben Thomas Walker der grandiose koloraturenfeuernde Stratosphären-Sopran der Lenneke Ruiten als La Folie und der bassvirile Andreas Wolf als Jupiter genannt. In hoher musikalischer Sensibilität und enorm poetischen Bildern gelingt so ein musiktheatralischer Ausnahmeabend, in dem ein aberwitziges Spektakel in tief berührende Erfahrungen der Abgründe unseres Menschseins führt. Was sonst könnte die Oper im besten Falle vermögen?
Oper Stuttgart
Rameau: Platée
Ausführende: Hans Christoph Bünger (Leitung), Calixto Bieito (Inszenierung),Lydia Steier (Choreographie), Susanne Gschwender (Bühnenbild), Anna Eiermann (Kostüme), André Morsch, Cyril Auvity, Shigeo Ishino, Mirella Bunoaica, Lenneke Ruiten, Thomas Walker, Lauryna Bendziunaite, Andreas Wolf, Maria Therea Ullrich, Staatsopernchor Stuttgart, Staatsorchester Stuttgart
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