Der See scheint in herrschaftlicher Ruhe zu schlummern. Kaum mehr als einen Steinwurf entfernt liegt Giacomo Puccini in der Privatkapelle seiner Villa begraben. Hier, am für fremde Zungen nur stolpernd auszusprechenden Lago di Massaciuccoli, wo Puccinis Geist an diesem Abend ganz sanft zu wehen scheint, werden alljährlich zu seinen Ehren Sommerfestspiele gefeiert. Aus dem weiten Rund einer am Ufer installierten Open Air-Tribüne geht der Blick auf die Bühne wie auf den hinter ihr liegenden See. Der Genius Loci spielt gehörig mit. Die Stimmung stimmt. Auch die Akustik: Denn anders als beim Spiel auf dem See in Bregenz ist eine Verstärkung von Sängern oder Orchester hier mitnichten nötig.
Der Geist der Improvisation
Es geht hemdsärmlich zu bei diesen Puccini-Festspielen in der nördlichen Toskana, wo der Meister im nahen Lucca einst geboren wurde. Ein Programmheft gibt es nicht, wir ergattern immerhin eine Besetzungsliste, aus der hervorgeht, dass statt Startenor Fabio Armiliato heute Aquiles Machado den Cavaradossi geben wird. Wir atmen auf: Armiliatos Gattin Daniela Dessì wird die Titelpartie gleichwohl wie angekündigt singen: Sie gehört zu den besten Tosca-Diven der Welt. An vokaler Intensität und dramatischer Glaubwürdigkeit kann der Italienerin kaum eine Sopran-Kollegin das Wasser reichen.
Auftrittsapplaus für die große Diva Daniela Dessì
Kaum tritt die Primadonna nach ihrem den Liebsten rufenden „Mario, Mario“ auf, brandet Applaus auf. Hier hat eine große Sängerin eben noch den Nimbus des Außergewöhnlichen, den man beklatscht, auch wenn die Musik gerade läuft. Und Dessì hat ein Übermaß von Nimbus: von Ausstrahlung, Präsenz, von Primadonnen-Sein. Die Figur der Sängerin Tosca, die ihr Leben der Kunst weiht, die jeden Schritt ihres in poltischen Dingen ambitionierten Mario Cavaradossi voller Eifersucht auf eine potenzielle Nebenbuhlerin beäugt, diese Figur ist in Daniela Dessì ideal verkörpert. Jede Geste hat Hoheit, jede Phrase ist theatralisch durchpulst. Die Sängerin lebt die von Wahrheit getränkte Gefühlslogik des Verismo mit einer Dichte und einer Schärfe, die überwältigt und berührt.
Pure Opernpassion – die Zugabe des „Vissi d’arte“
Ihr „Vissi d’arte“ im zweiten Akt, von ihren Fans sehnlichst erwartet, löst dann nicht nur Begeisterungstürme, sondern auch multiple „Brava-“ und „Bis“-Rufe aus, will heißen, das Verlangen nach einer Zugabe. Soll sie dem Verlangen stattgeben? Die Arie tatsächlich wiederholen? Es dauert eine Weile, bis der junge Maestro Valerio Galli das Einverständnis der Diva einholt und mit dem Orchester den erneuten Einsatz umsetzt. Und dann gibt es tatsächlich Dessìs zweite Version des „Vissi d’arte“ zu hören. Jetzt noch legatosatter, lyrischer und verinnerlichter als zuvor. Sie singt nicht einfach eine Wiederholung, sondern liefert eine weitere Interpretation ab, die nun vollends unter die Haut geht. Das ist Oper in Italien: Spektakel, Passion, vokale Höhenflüge nebst Interaktion mit dem Publikum.
Das Orchester: Puccinis Aggressivität klingt wie ein zahnloser Tiger
Durch Dessì kann das Festival in Torre del Lago den Anspruch umsetzen, der andernorts entsprechend gilt: In Pesaro soll es exemplarischen Rossini zu hören geben, in Bayreuth exzeptionellen Wagner. Von einer Alleinvertretung in Puccini-Dingen kann nun freilich in Torre del Lago außer der großen Sängerin keine Rede sein. Das Festival schlingert. Hörbar und sichtbar. Ein derart energetisch unterspanntes Orchester scheint im Mutterland der Oper undenkbar. Hier jedoch klingt Puccinis Aggressivität wie ein zahnloser Tiger. Von authentischem Puccini ist man hier Schalljahre entfernt.
Die Orgel im ersten Akt und die Glocken im Finalakt werden gar vom Synthesizer eingespielt. Eine Schande. Aquiles Machado verrutschen die Acuti im Wobble des Ungefähren. Oder ist es nur ein Zeichen von Nervosität, dass die Spitzentöne am Ende seiner ersten Arie „Recondit‘ armonia“, in „La vita mi costasse“ und „Vittoria“ so unfokussiert wackeln? „E lucevan le stelle“ singt er schließlich im dritten Akt mit gutem Piano. Alberto Mastromarinos rollenerfahrenem Scarpia gebricht es zwar an echter Dämonie, sein Sprechgesang darf gleichwohl als rollendeckend gelten. Lichtblick im ansonsten düsteren Ensemble ist der junge Tenor Ugo Tarquini als Spoletta. Da zeigt ein aufstrebender Künstler, wie man durch Präzision und Präsenz eine kleine Rolle zu einer bedeutenden machen kann.
Regisseurin kurzfristig ausgetauscht
Vieles wirkt an diesem Abend nicht nur uninspiriert, sondern auch ungeprobt. Regisseurin Vivien Hewitt wurde nach – laut Sängermeinungen – erfolgreichem Probenstart entlassen und nach Verstreichen von wertvoller Zeit durch den Regie-Senior Giorgio Ferrara ersetzt, der im schick reduzierten Bühnenambiente von Mimmo Palladino immerhin für Unfallfreiheit sorgte. Hewitt, die zwischenzeitlich juristischen Beistand suchte, soll nun im kommenden Jahr für die Regie einer neuen Madame Butterfly wieder herzlich willkommen sein.
Es regiert das politisch-administrative Chaos
Im administrativen wie politischen Hintergrund des Festivals brodelt es derweil. Am 1. Juli wurde der Festspielpräsident ausgetauscht. Der neu installierte Alberto Veronesi macht sich seitdem bei den Künstlern unbeliebt. Er habe nicht nur Proben gestrichen, sondern auch die Aufführung der diversen Finali der Turandot und ein flankierendes musikwissenschaftliches Symposium – Veranstaltungen, die zweifellos profilbildend wirken würden. Auch vom Versuch nachträglicher radikaler Reduktionen der vertraglich vereinbarten Künstlergagen ist die Rede, mitunter auch von noch nicht gezahlten Gagen aus dem Vorjahr. Die friedliche Atmosphäre am See also täuschte: Nach der Premiere zieht ein heftiges Gewitter auf, das der Lage in Torre del Lago wohl eher entspricht.
Festival Pucciniano Torre del Lago
Puccini: Tosca
Ausführende: Valerio Galli (Leitung), Giorgio Ferrara (Inszenierung), Mimmo Palladino (Bühnenbild), Daniela Dessì, Aquiles Machado, Alberto Mastromarino, Luigi Roni, Ugo Tarquini, Orchestra del Festival Puccini