Es hilft mitunter, einfach genauer auf Musik und Text zu achten, als die Regievorgänger es taten – und man vermag auf einmal den Kern eines Stück herauszuschälen. Vera Nemirova übersetzt Verdis schonungslose Darstellung seiner Zeit virtuos, präzise, einfühlsam, konsequent und klug in eine Geschichte der Gegenwart – jene einer eventgeilen Gesellschaft, die sich einen Star inszeniert, ihn zur Ware degradiert, benutzt und alsbald verbrennt.
Warum stirbt Nemirovas Violetta also? Es sind weder Schwindsucht, noch Aids oder Drogenkonsum – als die Krankheiten der Halbwelt von einst oder der Aussteiger, der vom Weg abgekommenen „Anderen“ von heute. Es sind die Verhältnisse, an denen Violetta zu Grunde geht, der Druck einer Gesellschaft, die von ihr erwartet, das Fleisch ihrer Stimme zu Markte zu tragen. Diese Violetta könnte eine Callas sein, die sich sehnsüchtig nach dem richtigen Leben im falschen verzehrt und einsam stirbt; sie könnte eine Lady Diana sein, die aus dem Rollenkorsett der Traumprinzessin ausbricht, den Traum von wahrer Liebe wagt und für ihre Flucht mit dem Leben bezahlt; und es könnte eine Netrebko sein, die sich auf dem Höhepunkt ihrer glamourösen Karriere, die ja eng mit ihren Erfolgen als Violetta zusammenhängt, nun in ein reines Privatleben zurückziehen will. Würden wir das zulassen? Würde der Markt sein hochrentables Luxusobjekt unserer Begierden, dieses perfekte Produkt der Klassik ziehen lassen? Oder unbarmherzig zurückschubsen auf die Bühne, wo es weiter zu funktionieren hat?
Großartig gelungen ist Vera Nemirovas Traviata-Übertragung in unsere Zeit, weil die Regisseurin nie beliebig Zeitgeist auf Verdi projiziert, sondern ihr Konzept in jedem Moment auf Verdi und seinen Librettisten Piave rückbindet, dabei nie aufgesetzt verkopft, sondern lustvoll farbenreich, ja liebevoll kritisch die Rezeption des Stücks als kulinarische Primadonnenoper mitschwingen lässt. Ja, sie zeichnet das Psychogramm einer Primadonna, erzählt Aufstieg, Ausbruch, Rückkehr und Fall des Idols einer vergnügungssüchtigen Opern-Society.
Als Verneigung vor ihrem Publikum – wir befinden uns schließlich in Mainz – kommen Kostümierungen des Karnevals dabei nicht zu kurz. Das „Libiamo“-Trinklied stellt sie im grellen Spot als vom Werk-Kontext längst emanzipierten Hit aus. Und ihre Violetta führt sie mit einer unerhörten szenisch-mimisch-musikalischen Genauigkeit durch die Rollenzuschreibungen und dazugehörigen Frauenbilder eines Stars. Hier stimmt einfach alles: Das Schminken, das Auf- und Absetzen der pinken Perücken und Kleider, das Spiel mit den Ebenen vor unter hinter den Kulissen wie jenes des Lebens als Ware und des wahren Lebens, das angesichts der Pelzmantel-Promis (in perfekt individualisierter Chor-Regie) kaum eine Chance erhält.
Dabei triumphiert Vida Mikneviciute in der Titelpartie. Jung, schlank, blond, hoch attraktiv kommt die Sopranistin daher, wirkt damenhaft kühl, fast intellektuell, ihre Lage zwischen Freiheit und Abhängigkeit bewusst reflektierend. Mit großer, ja gleichsam in alter Schule dramatisch durchpulster Stimme gestaltet sie die Figur abseits aller Soubretten-Süßigkeit als eine starke Tragödin, eine Star-Sängerin eben, die in ihrer Garderobiere Annina, von Anke Steffens – exzellent und charakterstark aus aus dem Chor besetzt – ebenso hoch intensiv dargestellt und zur weiteren Hauptfigur aufgewertet, eine bis in den Tod getreue Gefährtin um sich weiß. Thorsten Büttner, mit wunderbar leicht ansprechendem, schmelzend italienisch geführtem lyrischen Tenor, ist Violettas Alfredo – ein netter Bursche, dem das wirklich feste Bekenntnis zu dieser Liebe abgeht. Die finale Rückkehr zur sterbenden Traviata ist ihm denn auch verwehrt.
Für den Schluss wagt es Nemirova, den radikalen Realisten Verdi ihrerseits zu radikalisieren – und jede Kitsch-Gefahr eines tränentreibenden Rührstücks mit seiner die Tragödie mildernden lieto fine-Versöhnlichkeitsgeste zu vermeiden. Hier erlebt die todgeweihte Violetta die Rückkehr des Geliebten nurmehr als Traum von einem gemeinsamen Leben nach ihrer Genesung. Alfredo stimmt in diesen Traum, seinerseits freilich bereits an ihrem Grab stehend, singend ein. Selten wurde das gedehnte Sterben in der Oper mit seiner Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen so hellsichtig und erbarmungslos gezeigt. Ein Baum, Signet des erhofften gemeinsamen Lebens auf dem Lande, ziert dieses Grab als poetisch schöner Verweis auf die kurze schöne Zeit der Zweisamkeit.
Obwohl das Orchester unter Florian Csizmadia, Hamburgs einstigem Chordirektor und jetzigem Mainzer 1. Kapellmeister, eher knallig theaterprall denn mit allerletzter Delikatesse der Zwischentöne zu Werke geht, ist hier eine Verdi-Interpretation von größter Entschiedenheit zu bewundern: Die stellt nicht nur manch große Häuser in den Schatten, sie lohnt selbst eine weite Reise an den Rhein.
Staatstheater Mainz
Giuseppe Verdi: La Traviata
Ausführende: Florian Csizmadia (Leitung), Vera Nemirova (Regie), Vida Mikneviciute, Tatjana Charalgina, Patricia Roach, Katherine Marriott, Thorsten Büttner, Heikki Kilpeläinen, Jürgen Rust, Dietrich Greve, José Gallisa, Anke Steffens, Hans-Otto Weiss, Patrick Hörner, Seok-Gill Choi, Chor des Staatstheaters Mainz, Philharmonisches Staatsorchester Mainz
Termine: 14. & 17.1., 1. & 12.2.2014, jeweils 19:30 Uhr