Es ist mal wieder Krieg – in der sehr alten, aber immer wieder neuen Variante: als Kampf der Kulturen. Muslimische Frauen, an Betten gekettet, werden schon in der Ouvertüre von Soldaten in Siegerpose erniedrigt. Ilia ist eine von ihnen. Sie verliebt sich freilich ausgerechnet in einen jungen Mann, der auf der falschen Seite steht. Die troyanische Prinzessin und der kretische Königssohn Idamante sind das ungleiche Paar. Der voller Überzeugung Friedensbewegte trägt ein T-Shirt mit weißer Taube und singt mit jungmännisch betörendem Belcantoschmelz: Mit Luciano Botelho steht da – in stimmlicher Hinsicht jedenfalls – ein früher Alfredo aus La Traviata auf der Bühne. Später, in der Romantik, gehen solche ungleichen Beziehungen eigentlich immer schief. In Mozarts opera seria aber kriegen die beiden sich – im echten Happy End mit hier vom Jubelchor initiierter interaktiver Mitklatsch-Erlaubnis. Orient und Okzident versöhnen sich. Kann die Botschaft einer Mozart-Oper moderner sein?
Bilder von kolossaler existenzieller Wucht
Mit Wagners Mythen kennt Graham Vick sich bestens aus, seine klugen Übertragungen von Ring oder Tristan und Isolde in die Gegenwart sind europaweit zu bestaunen. Jetzt wagte der britische Regie-Tausendsassa sich also an Mozarts Meisterwerk der archaischen Verstrickungen: göttliches Schicksal steht gegen menschliche Emanzipation. Mit dem Kniff eines psychologischen Expressionismus hat Vick die opera seria grandios geknackt. Bilder von kolossaler existenzieller Wucht erzählen vom Zwiespalt eines gebrochenen Vaters und Herrschers. In einem dieser starken Bilder, das seine Seelenqual für uns alle unmittelbar sichtbar macht, wird Idomeneo bei seiner Anrufung des Neptun, dem er unwissentlich das Opfer seines Sohns versprochen hat, geradewegs durchs Wasser gezogen. Paul Nilon hat die Reife wie die tenorale Wendigkeit für die komplexe Figur.
So archaisch wie aktuell
In der Auseinandersetzung mit seinem Sohn Idamante wird ein Vater-Sohn-Konflikt verhandelt, der so archaisch wie aktuell ist. Man darf da die fast vollzogene Tötung seines Sohnes durch Urvater Moses ebenso mitdenken wie den von Gottvater geduldeten Opfertod Jesu Christi. Graham Vick und sein kongenialer Ausstatter Paul Brown geben der Vielschichtigkeit der Geschichte assoziationsreich Raum. Zentrale Metapher des wandlungsreichen Bühnenbildes ist ein Zitat aus der Sixtinischen Kapelle, das die Künstler nun gleichsam umkehren. Zeigt Michelangelo in seiner Erschaffung Adams einen kraftvoll Leben gebenden Schöpfergott, scheint sich auf der Göteborger Opernbühne die menschliche Hand wie ertrinkend, ja angstvoll zaudernd von einem patriarchalischen Diktator zurückzuziehen. Die Abwendung von einem alles vorherbestimmenden Gotteswesen zeigen die mutigen Interpreten ganz im Sinne Mozarts als einen Akt der Aufklärung, der Selbstbestimmung des Individuums. Idomeneo ist wie der Figaro eine Oper der Zeitenwende, nach der nichts mehr so ist, wie es mal war.
Abgesang auf alte Ordnungen und begrenzte Weltbilder
Händelexperte Laurence Cummings betont dazu stimmig die düsteren Requiemfarben der aufregenden und behutsam aufgerauten Partitur. Ein Requiem als Abgesang auf alte Ordnungen, enge Systeme und begrenzte Weltbilder ist dieser Idomeneo also. Ein Sterbegesang zudem, der einer neuen Welt den Boden bereitet: jener eines jungen Paars aus zwei Kulturen, das dem Patriarchat des Idomeneo ein neues Miteinander entgegenstellt. Das kann auch die Rachefurie der Elektra nicht verhindern, die Ingela Brimberg mit nie keifender und erfreulich wobble-freier Hochdramatik auflädt. Ida Falk Winland singt für die Liebe der Ilia mit so expansionsreich wissendem, nie nur lyrisch mädchenhaftem Sopran, dass die Oper einfach gut enden muss. Dass die Göteborgs Operan eine Sängerin von diesem Format ebenso im Ensemble hat wie den imposanten Bass Mats Almgren, der andernorts schon den Hagen, hier nur den Kleinstpart des Orakels singt, zeugt von der enormen Leistungskraft des nordischen Opernhauses. Ein bewegender Abend.
Göteborgs Operan
Mozart: Idomeneo
Laurence Cummings (Leitung), Graham Vick (Regie), Paul Brown (Ausstattung), Paul Nilon, Luciano Botelho, Ida Falk Winland, Ingela Brimberg, Ingemar Anderson, Tomas Lind, Mats Almgren