Ist das sich in „Idomeneo“ aus den Fluten erhebende Meeresungeheuer der an der Umweltzerstörung leidende Ozean? Spiegelt Mozarts Musik den Klimawandel? Diese Überlegungen inspirierten Peter Sellars bei seiner nach „The Indian Queen“ (2016) und „La clemenza di Tito“ (2017) dritten Zusammenarbeit mit Teodor Currentzis zu einer akzentuiert subjektiven Realisierung der zwischen Revolution und Restauration stehenden Opera seria „Idomeneo“. In der Felsenreitschule hört man, dass Mozart seine 1781 in München entstandene Partitur für das fortschrittlichste Orchester Europas komponierte. Regie und Choreographie fallen neben der Leistung des in großer Besetzung mit fast 60 Musikern auftretenden Freiburger Barockorchesters allerdings stark ab. Ärgerlich ist auch die mehr ornamental als essentiell auf die Produktion wirkende Programmheftdramaturgie und die fast sektiererische Apologie der Musikwissenschaftlerin Susan McClary.
Licht und Plastik
Viel szenischen Leerlauf gibt es zwischen den hängenden, liegenden, verschiebbaren Gebilden des Multi-Artists George Tsypin im bunten, das einmalige Ambiente der Felsenreitschule kaum zur Geltung bringende Licht von James F. Ingall. Gewinnendes Stimmmaterial, aber matte Diktion zeigt der musicAeterna Choir of Perm Opera. Das Ensemble krümmt sich zusammen, wenn rote und blaue Lichtwogen über die Massen hinwegbrausen oder transparente Säulen sich bedrohlich hochschrauben. Aber die erschütternde Wirkung bleibt aus. Die Teilung in eine ethnische Gruppe aus dem Osten und Trojaner in uniformen Overalls, pigmentiert wie der durch Plastikpartikel verseuchte Blaue Planet, bleibt Staffage. Die Frage drängt sich auf: Verdienen Robby Duivermans Kostüme ein Zertifikat für ressourcenschonende Fertigung?
Harmlose Regie-Arrangements
Viel guten Willen verraten die von Sellars, wie es scheint, im Goetheanum Dornach studierten, symmetrischen und recht harmlosen Arrangements. Spannung gewinnt Mozarts faszinierende Opera seria aber vor allem durch Currentzis. Die Heimkehr des kretischen Königs Idomeneo, der nach Rettung aus einem Sturm Poseidon das Opfer des ersten ihm begegnenden Menschen gelobt und deshalb seinen eigenen Sohn Idamante opfern muss, wäre ein passendes Sujet zur Spiegelung der drohenden Apokalypse. So belastet ein Potentat von heute seine Nachkommen mit dem existenzbedrohenden Risiko eines zerstörten Ökosystems. Doch das naive Ende von Sellars‘ Appell zur Solidarität aller Völker, die gemeinsam an der Notbremse ziehen sollen, irritiert: Laut Inhaltsangabe beginnt mit der Vereinigung Idamantes und der traumatisierten Trojanerin Ilia eine bessere Zeit. Diese kündigt sich an durch parallele Soli der polynesischen Künstlerin Brittne Mahealani Fuimaono und des Tänzers Arikitau Tentau aus Samoa. Beide stammen aus Regionen, in denen Inseln unter dem steigenden Meeresspiegel versinken. Doch zwischen dem empathischen Anlass und dem exklusiven Festspielambiente kommt es in der langen, vom Choreographen Lemi Ponifasio mit symbolischen Bewegungsmaterial seiner Heimat gefüllten Ballettmusik nicht zu Reibungswärme – leider.
Buhruffe statt Betroffenheit
Am Ende steht die ökologische und psychologische Rettung: Die göttliche Stimme (Jonathan Lemalu) fordert den dynastischen Wechsel. So wird alles besser. An keiner Stelle verdeutlicht Sellars‘ positive Utopie, dass Kollektive nicht nur dulden, sondern für die Wende zum Guten auch handeln müssen. Der nach der zweiten Vorstellung von etlichen Buhrufen sekundierte Jubel zeigt wenig Betroffenheit und bricht schnell ab.
Kontrastreiche Solisten
Spannender Akzent im flauen Umfeld: Idamante schwankt lange zwischen Ilia und der durch die Mordkette in ihrer Familie verhärteten, sich nach Liebe verzehrenden Elettra. Das Solisten-Ensemble war sich bei der Einstudierung offenbar weitgehend selbst überlassen, und Currentzis sucht an nur wenigen Stellen den Blickkontakt zur Bühne. Ying Fang und Paula Murrihy als den Schluss der „Zauberflöte“ vorwegnehmende Hoffnungsträger singen betörend. Schöner geht es nicht, undramatischer schwerlich. Etwas stilistische Unterstützung für die höllisch schwere Titelpartie (mit kurzer Variante der Bravourarie „Fuor del mar“) hätte dem seine Grenzen im Ziergesang mit gen Ende gaumigen Piani verbergenden Verdi-Tenor Russell Thomas gut getan.
Auf Höhe von Mozarts genialer Partitur glänzen neben David Steffens, der als Prolog zum zweiten Teil das kurze Solo „Ihr Kinder des Staubes“ aus „Thamos, König von Ägypten“ singt, zwei weitere Interpreten: Für Levy Sekgapane bleibt nach dem Strich beider Arien des Arbace nur ein expressives Rezitativ. Bei Nicole Chevalier enthält jede Phrase Süßes und Bitteres. Mit starker Persönlichkeit setzt sie berückende oder, stimmig zu den emotionalen Extremmomenten, schneidende Akzente. Ihre Piani haben Autorität, die Forte-Stellen den unerlässlich langen, gefassten Atem. Eine auch vom Publikum angemessen gewürdigte, großartige Leistung, deren dramatische Sensibilität und stimmliche Hochspannung an Julia Varady erinnern. Nicole Chevalier bewegt sich als einzige mit der Intensität, die Mozarts Zukunftsoper erfordert.
Orchester zwischen Zukunft und Vergangenheit
Die Pizzicati der Streicher und auffallend runden Blech-Intonationen des Freiburger Barockorchesters sind erstaunlich. Daneben haben Windgebläse und Donnerblech eine exponierte solistische Funktion. Die um 1780 aus allmählich aus Orchestern verschwindende Laute (Andrew Maginley) als konservatives und das zeitgleich neben dem Cembalo zukunftsfähig erstarkende Hammerklavier (Marija Shabashova) macht Currentzis zu Symbolen einer musikalischen Zeitenwende. Doch der Verzicht auf viele Rezitative, die zu Mozarts bedeutendsten Vokalkompositionen gehören, befremdet. Auch deshalb hinterlässt der Abend einen zwiespältigen Eindruck. Diese Produktion gleicht einer riesigen Eisbombe, bei der allenfalls das Dekoschirmchen dem Verzicht-Postulat zum Opfer fällt. Wenn überhaupt.
Salzburger Festspiele
Mozart: Idomeneo
Teodor Currentzis (Leitung), Peter Sellars (Regie), George Tsypin (Bühne), Robby Duiveman (Kostüme), Vitaly Polonsky (Choreinstudierung), James F. Ingalls (Licht), Lemi Ponifasio (Choreografie), Antonio Cuenca Ruiz (Dramaturgie), Russell Thomas (Idomeneo), Paula Murrihy (Idamante), Ying Fang (Ilia), Nicole Chevalier (Elettra), Levy Sekgapane (Arbace), Issachah Savage (Gran Sacerdote), Jonathan Lemalu (Nettuno / La voce), Brittne Mahealani Fuimaono, Arikitau Tentau (Tänzer), musicAeterna Choir of Perm Opera, Freiburger Barockorchester
Weitere Vorstellungen: 6., 9., 12., 15., 19. August 2019 Felsenreitschule