Am Anfang ist fast alles wie immer: Zwei vornehme Damen in Rokoko-Reifröcken und Perücken nehmen Abschied von ihren Verlobten, die angeblich in den Krieg ziehen. Verkleidet als Türken kehren die Offiziere alsbald zurück. Das Experiment um die Treue der schönen Schwestern geht los. Mozarts bitterböse Komödie Così fan tutte ist eine Versuchsanordnung über die manipulative Wandelbarkeit der Gefühle. Ein Abgesang auf das erotische Zeitalter des Ancien Régime. Ein Geniestück über Wahrheit und Lüge in der Liebe.
Komödienkunst aus dem Geist des Rokoko
Sandra Leupold lässt die Szenen dieses Labors der Liebe am Theater Lübeck zunächst nach den Regeln der Komödienkunst perfekt abschnurren. Man staunt über die Detailgenauigkeit einer handwerklich hochkarätigen Personenführung, versteht die ungestrichenen und sehr wohl langen Rezitative ganz genau, weil sie hier einmal wirklich ausagiert werden. Die Schweizer Regisseurin, die für ihre kammerspielartig genau Inszenierung von Verdis Don Carlo mit dem Preis „Der Faust“ geehrt wurde, versteht das Stück aus seinem historischen Kontext heraus, seziert es dabei freilich so messerscharf analytisch – in heute kaum mehr zu erlebendem Ruth Berghaus-Scharfsinn – aus dem Geist des Zeitalters der Aufklärung, dass man Mozarts Musik wie neu hört.
Heimliche Brüche und Mozarts V-Effekt
Meint der Meister der Seelenschau das überströmend schöne tenorale Liebesbekenntnis Ferrandos im zweiten Akt wirklich ernst? Ist das traumhafte Liebesduett des moralisch falschen Paars, das musikalisch – mit Sopran und Tenor – freilich das genau richtige ist, nur schöner Schein, oder spiegelt es in diesem Augenblick eine wahrhaftige menschliche Begegnung? Komponiert Mozart in der Hochzeitsszene des falschen Paars nicht ein Musterbeispiel von echter Innigkeit? Sandra Leupold verweist blitzgescheit und mit sehr feinem Ohr für die Zwischentöne und heimlichen Brüche der Musik darauf, dass in Mozarts musikalischer Komödie des 18. Jahrhunderts bereits das Brecht-Prinzip der Verfremdung waltet. Und so schreitet der Prozess der Verunsicherung, Desillusionierung und Entzauberung mit Konsequenz voran.
Konfrontation mit dem nackten Selbst
Die zunächst leere Bühne füllt sich kontinuierlich mit den Versatzstücken der Verkleidungskomödie – bis die Figuren dieser aus den Fugen geratenen Welt uns fast unbekleidet gegenüberstehen als vollends verwirrte Menschen der Gegenwart, die sich mit ihrem nackten Selbst konfrontiert sehen. So ist ein für Alle sichtbares Gefühlschaos entstanden, aus dem es garantiert kein spielerisch leichtes „Zurück auf Los“ geben kann. Zu groß sind die Schmerzen, zu heftig die Verzweiflung, zu hart die Lektionen, die Mozart und Da Ponte in ihrer Schule der Liebenden den beiden Paaren und uns lehren.
Herrlich harmonierendes Solistenensemble und ein fulminantes Debüt am Pult
Felix Krieger, der sein fulminantes Lübeck-Debüt gibt, ist dabei ein genialischer Partner am Pult, der seinen Mozart nicht nur knackig, federnd und frisch im Sinne einer historisch informierten Musizierpraxis aufraut, sondern mit seinen herrlich harmonierendem Solistenensemble in gewagt langsamen Tempi der Arien die Frage nach Wahrheit und Verstellung seinerseits erhellend stellt. Die Schlusstakte des vorgeblichen frohen Endes lässt er in einer Endlosschleife verebben gleich einem Decrescendo ins Nichts. Da macht Dekonstruktion endlich einmal Sinn – und wird Mozarts tragikomischem wie bitterbösem Blick gerechter als jede billige Behauptung von Happy End.
Theater Lübeck
Mozart: Così fan tutte
Felix Krieger (Leitung), Sandra Leupold (Inszenierung), Stefan Heinrichs (Bühne), Jessica Rockstroh (Kostüme), Erica Eloff, Wioletta Hebrowska, Johan Hyunbong Choi, Daniel Jenz, Andrea Stadel, Steffen Kubach