Einen solchen durch Blitzlicht und Sicherheitspersonal in Szene gesetzten Promi-Auflauf kennt Italiens Hochkultur sonst nur am Opernhaus Nr. 1 des Landes – immer dann, wenn die Mailänder Scala am 7. Dezember traditionstrunken und natürlich von linken Protesten begleitet ihre Saisoneröffnung begeht. Wir aber befinden uns an diesem frühfrühlingshaften Freitag in der Hauptstadt der Republik, im von Renzo Piano erdachten Konzerthausjuwel des Auditorium, das mit seinen uterusweichen Holzrundungen sogleich für Wohlfühlwonne und demokratischen Kunstgenuss sorgt.
Hier ist Italiens orchestrales Aushängeschild zu Hause, das Orchestra dell‘ Accademia Nazionale di Santa Cecilia. Sir Antonio Pappano steht dem einzigen international strahlenden Sinfonieorchester des Opernlandes nun schon seit 2005 vor und hat es gehörig aufgemöbelt. So konnte man unter seinen leidenschaftlich modellierenden Händen in den letzten Jahren eindrücklich vernehmen, wie ein Gustav Mahler, der das Orchester in seiner Gründungsphase noch selbst geleitet hatte, im Lichte des Südens klingen kann: Selten spürte man die Neurosen des sich bekenntnishaft häutenden Tondichters so unverblümt, gleichsam schamlos. Regelmäßige Europa-Tourneen und eine aktive Aufnahmetätigkeit tragen den Ruhm der Römer nach Draußen.
Ein Ausnahmeereignis: Das beste Sinfonieorchester des Opernlandes Italien nimmt Verdis Aida neu auf
Jetzt freilich wilderte die römische Spitzenkapelle jenseits des Sinfonischen. Pappano spielte Guiseppe Verdis Aida ein und brachte die Ägyptenoper im Nachgang der siebentägigen Aufnahmesitzungen von Warner Classics nun als Konzertgala heraus. Dabei erweist sich nicht nur die Sängerbesetzung erwartungsgemäß als Sensation. Schon die Tatsache, dass einer der zentralen Titel des Opern-Kanons noch einmal als kostenraubende Studio-Produktion (und zudem vor dem Hintergrund ungewisser Verkaufszahlen in einem gesättigten Markt) entstehen darf, gleicht einem Ausnahmeereignis, das den Blätterwald rauschen lässt. Denn just nach Pappanos CD-Veröffentlichung von Tristan und Isolde, mit Plácido Domingo und Nina Stemme in den Titelpartien, hieß es einhellig, dies müsse doch nun eigentlich die letzte Studioeinspielung einer Oper gewesen sein.
Referenzproduktionen, zumal der Aida, gibt es reichlich, nicht wenige sind just in Rom entstanden, wo sich einst die Decca mit Italiens Sopranschlachtross Renata Tebaldi gegen die Mailänder Scala in Stellung brachte, die ihrerseits mit Maria Callas in den Krieg des florierenden Schallplattengeschäfts zog. Auf dem internationalen Kampfplatz der Oper gab es eine klare italienische Vorherrschaft, nur Wien – seinerzeit mit Megamaestro Karajan – und London spielten da noch eine gewisse Rolle.
Deutsche Debütanden bringen die Römer zum Jubeln: Anja Harteros und Jonas Kaufmann singen erstmals Aida und Radamès
Heute kann von italienischer Dominanz in Operndingen leider keine Rede mehr sein. Wovon die aktuelle Besetzung der Hauptpartien zeugt: Es gibt nun mal weder eine neue Tebaldi, noch ist die Wiedergeburt eines Mario del Monaco in Sicht. Just zwei deutsche Debütanten sind es also, die von Roms Opernfans jetzt hymnisch bejubelt werden: Anja Harteros und Jonas Kaufmann singen erstmals Aida und Radamès. Als Verdi-Traumpaar hatten die beiden bereits in München und Salzburg für den absoluten Opern-Ausnahmezustand gesorgt.
Anja Harteros lässt die Beseeltheit der Piani und Pianissimi Ereignis werden
Kündigt sich der Wechsel ins schwere Heldenfach bei Kaufmann schon seit Jahren an, der bald gar mit einem Otello seinen vorläufigen Höhepunkt erreichen soll, hat Anja Harteros ihre Fachgrenzen stets vorsichtig ausgelotet und nur testweise überschritten. Wenn die Zauber-Arabella und Innigkeits-Desdemona jetzt also die dramatische Sopranpartie der Aida stemmt, werden schnell Zweifel laut. Überspannt die Harteros damit ihren lyrisch strömenden, silberblühenden Seelensopran? Büßt sie mit dem Ausbau von mittlerer und tiefer Lage womöglich ihre leicht ansprechende Höhe ein? Nicht zuletzt dank des überragenden Sängerdirigenten Antonio Pappano, der einfach jede Phrase hingebungsvoll mitzuatmen scheint, ist von solchen Gefahren kaum etwas zu spüren. Vielmehr kreieren Harteros und Pappano eine neue, ganz andere Aida, als wir sie durch die Aufführungstradition zu kennen meinen.
Weniger die Heroine, weniger auch die Tragödin Aida lernen wir hier kennen, sondern die in einer jungmädchenhaften Zartheit und ganz eigenen Erregtheit verliebte Frau. Es ist die Beseeltheit der Piani und Pianissimi, die Sängerin und Dirigent zum Ereignis werden lassen, es sind die flutenden hohen Töne des Jubelns, als sie erfährt, dass ihr Geliebter die Schlacht doch überlebt hat, die hier ohne Umschweife zu Herzen gehen. Bruchlos bis in die Tiefe führt die Harteros ihren herrlichen Sopran, den sie nie eindunkeln oder mit Brusttönen versteifen muss, um ihrer Figur dramatisches Format zu verleihen.
Weltklassefamos: Der Chor der Accademia Nazionale di Santa Cecilia
Durch Harteros und Pappano also erfahren wir nicht zuletzt, wie viele leise Stellen Verdi da in seine nur selten triumphmarschtosende Partitur geschrieben hat. Das macht Pappano schon mit dem hauchfein streicherentrückten Preludio der Oper deutlich. Und das unterstreicht der weltklassefamose Chor der Accademia Nazionale di Santa Cecilia, wenn er im Finale des 1. Akts die Anrufung des ägyptischen Gottes Fthà mit einem gänsehautevozierenden, himmlisch homogenen Pianissimo krönt: „Noi t’invochiamo“. Der einst von Norbert Balatsch, der Bayreuther Chorleiterlegende, erzogene Chor, wird heute von dessen einstigem Assistenten Ciro Visco auf seltenem Spitzenniveau gehalten. Besser geht’s nicht.
Und Tenorkönig Kaufmann?
Auch Jonas Kaufmann, der sichtlich Respekt vor Radamès und jenseits der sängerischen Bewältigung noch so gar kein tieferes Verhältnis zur Rolle entwickelt hat, fasziniert sogleich mit einem riskanten und glänzend gelingenden Diminuendo auf dem gefürchteten hohen B seiner Auftrittsarie „Celeste Aida“. Ein Meer an Blumensträußen aus weiblichen Händen freilich erhält der charmante Münchner am Ende wegen seiner testosteronviril trompeteten Tenortöne im Forte und Fortissimo. Die kommen und sitzen alle. Die imponieren. Kaufmanns Piani aber besitzen beileibe nicht die emotional überströmende Glaubwürdigkeit, mit denen Anja Harteros eben wirklich zu berühren weiß. Harmoniert der kultivierte Baritono nobile des Ludovic Tézier als Äthiopienkönig Amonasro wunderbar mit seiner Operntochter, hinterlässt Ekaterina Semenchuk als Amneris einen zwiespältigen Eindruck: Ihr vehementes Mezzo-Hexen-Orgeln macht zwar viel Effekt, zu selten fokussiert diese enorme Stimmbesitzerin ihre üppigen vokalen Mitteln aber zu echten Zwischentönen des Affekts.
Wo stehen wir heute in der Kunst des Verdi-Singens? Pappanos Studio-Einspielung, die im Herbst veröffentlicht wird und auf die wir sehr gespannt sind, dürfte über die Live-Momente des Konzerts hinaus viel Aufschluss geben. Klar machte die Gala bereits deutlich: Pappano bekennt sich mit Anja Harteros und seinem hervorragenden Orchester klar zur Zeitenwende der Aida-Interpretation, wie sie in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte: Mit Montserrat Caballé und Mirella Freni mutierten unter Riccardo Muti und Herbert von Karajan erstmals zwei lyrische Sopranistinnen zu Aida und begannen so, ihr ganz neue Facetten abzugewinnen. Just am 80. Geburtstag der großen Mirella Freni trat jetzt Anja Harteros in die Fußstapfen ihrer italienischen Kollegin. Ein sehr schönes Geschenk eigentlich.
Accademia Nazionale di Santa Cecilia
Verdi: Aida
Antonio Pappano (Leitung), Ciro Visco (Choreinstudierung), Anja Harteros, Ekaterina Semenchuk, Jonas Kaufmann, Erwin Schrott, Ludovic Tézier, Marco Spotti, Paolo Fanala, Donika Mataj, Orchester und Chor der Accademia Nazionale di Santa Cecilia