Macht oder Minne. Politik oder Passion. Das von Monteverdi bis Verdi jahrhundertelang erfolgreich bühnenerprobte Spannungsfeld der Oper ist in Händels frühem Meisterwerk mit mutiger Ironie übersteigert, ja gleichsam pervertiert – in ein pralles Stück des Sex and Crime. Da beschleicht, belauscht, belügt und beglückt man einander im Minutentakt und über viereinhalb Stunden, die freilich nicht mal für Sekunden langweilig werden in dieser umjubelten Eröffnungspremiere der diesjährigen Händel-Festspiele in Göttingen.
Im Tollhaus der Temperamente
Wir lernen dabei: Das Alte Rom war ein Saustall, ein Tollhaus der Temperamente, in dem Intrigengift und Körpersäfte ohne Unterlass und Erschlaffung spritzten. Der Vorteil in Händels Anverwandlung ist: Er spult nicht einfach nur die wahnsinnigen Wendungen der Geschichte koloraturenfeuernd ab, sondern balanciert die krachende Komödie als heimliche Tragödie aus. Die negative Heldin Agrippina – das Motto „Heldinnen!?“ ziert treffend das Gesamtprogramm des Festivals – setzt ohne Rücksicht auf Verluste alles daran, ihren verzogenen Sohn Nero auf den Thron zu hieven, auf dem noch ihr ungeliebter, chronisch untreuer Ehemann Claudius sitzt. Diese Agrippina wird in Göttingen zu einer heimlichen Verwandten ihrer griechischen Kollegin Klytämnestra, die in der Elektra von Strauss und Hofmannsthal bekanntlich gar verzweifelt „Mittel gegen Träume“ sucht. In ihrer zentralen mehrteiligen Arie hängt die Kaiserin bei Händel nun ihren sie peinigenden „Pensieri“ nach – die psychologische Modernität Händels bleibt verblüffend und zukunftsweisend. Schon seine zweite italienische Oper beweist: Mozarts Musiktheaterschaffen wäre ohne Händel kaum vorstellbar.
Bewegender Barockgesang: Fleischig statt vegan
Es ist großartig, wie dem früheren Tenor Laurence Dale, einst ein vielgerühmter Salzburger und Wiener Tamino, es als Regisseur gelingt, dieser Szene ihre tragische Fallhöhe im Satyrspiel des Komischen zu verleihen: Agrippina, sonst die allzeit beherrschte, den Intrigenstadel beherrschende Gattin des Kaisers, zeigt er in der Intimität der Arie als altes Weib: Sie ist ein körperliches wie seelisches Wrack, eine kaputte Schlafwandlerin. Ulrike Schneider spielt sie nicht nur grandios in ihrer Überlegenheit wie in ihrem Absturz, sie singt die Agrippina auch mit großer, wandlungsfähiger, dramatischer Mezzo-Stimme, geradezu fleischig, also mal gar nicht Alte Musik-vegan, dafür mit starkem Fokus, viel Feuer und auch viel Feinheit – genau so, wie Oper im Idealfall sein sollte. Vital, bewegend und berührend.
Die Zeitgenossenschaft der Alten Musik
Die Sängerin der Titelpartie steht damit beispielhaft für den ganzen Abend, der die reiche Gefühlspalette des Barock in absolut glaubwürdiger Zeitgenossenschaft vergegenwärtigt. In diesem Sinne wird das Festspielorchester zum zweiten Star des Abends – so farbenfroh leuchtend, so flexibel, so flink, so fantastisch affektsprühend ist Händels Musik die reine Wonne. Laurence Cummings – er ist auch künstlerischer Leiter der Festspiele – dirigiert die Premiere vom Cembalo aus als wahrer Überzeugungstäter in Händel-Dingen: wissender und entschiedener kann man Alte Musik nicht interpretieren. Sein Verständnis der historischen Aufführungspraxis ist eines der kraftvollen wie sensiblen Verlebendigung. Jeder Takt, jede Phrase gleicht einer Liebeserklärung an Händels effektvolles Juwel.
Wenn Gérard Depardieu einem Sandalenfilm entspringt
Fraglos der dritte Star des Abends ist Bass João Fernandes. Sein Claudius-Caesar hat die potente Präsenz eines alternden Gérard Depardieu, der geradewegs einer Sandalenfilm-Klamotte der 50er Jahre entsprungen und dann in Händels Antikenoper wieder gelandet ist. Ein etwas unappetitlicher, aufgedunsener Lüstling ist das, ein Ritter Falstaff von der traurigen, weil hinkenden Gestalt, der seiner sehr jungen Geliebten Poppea zur Erlangung von ein wenig Gunst statt der allfälligen Abscheu ein Kistchen Juwelen nach dem anderen mitbringen muss. Diamonds are a girl’s best friend. João Fernandes weist mit seinem Claudius vokal schon auf die großen Buffo-Partien Rossinis voraus, er spielt mit jedem Wort, jeder Nuance des so ungewöhnlich hochklassigen Librettos von Kardinal Vincenzo Grimani, er phrasiert und gestaltet schlicht vorbildlich.
Elvis Presleys Auferstehung
Das Inszenierungskonzept geht dank solcher Sängerdarsteller perfekt auf. Laurence Dale greift in seiner assoziationsreichen, witzigen, punktgenauen, dabei freilich nie die Musik durch einen Einfalls-Overkill gefährdenden Regie nicht nur die heute längst kultigen Antikenfilme mit ihren immerschönen Primadonnen wie Liz Taylor auf, sondern lässt durch Robby Duiveman auch jene Protagonisten der Popkultur der Nachkriegszeit wiederauferstehen, die, wie Elvis Presley, in ihrer grellen Outfits wie ihrer extravaganten Gestik dem Empfinden des Barock erstaunlich nah waren. Gerade das buffoneske Intrigantenpaar Narciso und Pallante (Counter Owen Willets und Bariton Ross Ramgobin) profitiert davon enorm. Doch auch das blonde Engelsgift des soubrettenzickig koloraturperlenden Societyschätzchens Ida Falk Winland als Poppea möchte man irgendwie schon mal in schwarz-weißen Fernsehzeiten bewundert haben. Der feuerrotkopfige Kurzhosenpennäler Nero des superagilen Countertenors Jake Arditti und sein weiß gewandeter ewiger Gegenspieler Ottone des anschmiegsam warmen Altus Christopher Ainslie fügen sich da ebenso harmonisch ein wie der baritoneloquente Diener Lesbo des Ronaldo Steiner, der leider keine Arie zu singen hat, seinen Rezitativen dafür aber ein umso markanteres Profil verleiht.
Ein Happy End?
Gattungsgemäß endet die Agrippina mit einem „lieto fine“, einem hollywoodtauglichen Happy End also. Regisseur Dale fügt ihm als Applaus-Nachklapp einen historischen Kommentar bei und zeigt, wie alle Protagonisten eines nicht natürlichen Todes sterben. Der multiple Mörder Nero richtet schließlich sich selbst. Es ist eben viel Tragödie in einer guten Komödie wie dieser.
Deutsches Theater Göttingen
Händel: Agrippina
Laurence Cummings (Leitung), Laurence Dale (Inszenierung), Tom Schenk (Bühne), Robby Duiveman (Kostüme), Ulrike Schneider, João Fernandes, Christopher Ainslie, Jake Arditti, Ida Falk Winland, Ross Ramgobin, Owen Willets, Ronaldo Steiner, Festspielorchester Göttingen