(14. September 2013) Bloß keine Oper! Musikfestivals, mögen sie nun in Schleswig-Holstein, dem Rheingau oder in Mecklenburg-Vorpommern liegen, meiden das Musiktheater wie der Teufel das Weihwasser. Schlichter Grund: die Finanzen. Ein Abend mit Orchester und einem Solisten an Geige oder Klavier rechnet sich eben besser als eine Oper mit mal eben mindestens zehn Gesangsstars, die es schon sein müssen, damit die Hütte am Ende auch voll ist. Im hochverschuldeten Bremen allerdings gehen die Uhren anders. Da gibt es einen Festivalintendanten, der nicht nur inhaltlich das mit Abstand aufregendste Programm im Norden auf die Beine stellt, sondern der auch mit der Wirtschaft „kann“ und also Unternehmen, Stiftungen und Banken ganz selbstverständlich an die Kultur bindet. Und so präsentiert Thomas Albert beim Musikfest Bremen 2013 gleich drei Opern-Ausnahmeereignisse: Mozarts Lucio Silla mit Rolando Villazón in der Titelpartie und in Zusammenarbeit mit den Salzburger Festspielen, Beethovens Fidelio mit dem stadteigenen Spitzenklangkörper, der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter Paavo Järvi, und Vivaldis L’Incoronazione di Dario mit der Accademia Bizantina unter Ottavio Dantone und einer nicht weniger als idealen Sängerbesetzung. Von der Vivaldi-Ausgrabung soll hier die Rede sein.
Die Geschichte um die Krone des verstorbenen Perserkönigs Ciro aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert liefert treffliche Anlässe für vokalen Schlagabtausch: Gut und Böse, Liebe und Eifersucht, Gefühl und Machtkalkül, Milde und Wut fetzen sich – Vivaldi komponiert ein vier Stunden dauerndes Füllhorn affektsatter Arien und Duette, die es locker mit Händel aufnehmen können, dessen Opernrenaissance freilich seit Jahrzehnten eingesetzt hat. Vivaldis Opern aber sind immer noch ein Nischenphänomen. Das muss nicht so bleiben, denn sein Amalgam aus Komödie und Tragödie ist eine Steilvorlage für einen postmodern frechen Regiemix. Die Konzertfassung in der Bremer Glocke lässt das alles mehr als ahnen.
Die Accademia Bizantina geht schon die Forte-Piano-Wechsel der Ouvertüre mit knackiger Kontrastschärfe an, spielt unter dem fabelhaften Ottavio Dantone dann die Instrumentalfarben obligater Violinen und Celli, Flöten und Fagotte, Hörner und Trompeten farbenfroh aus, sich sinnlich anschmiegend an die Sängerinnen und Sänger, die nicht jene fleischlos vibratofreien Barockstimmchen ihr Eigen nennen, sondern bei allem ausgeprägtem Zartgefühl für Fiorituren und Koloratur-Finessen doch auch dramatisch hinlangen können. Dies gilt zumal für die unerhörte Frauenpower dieses Abends. Allen voran betört Delphine Galou als Argene gleich einem singenden Sexus. Der textilfreie Rücken der schlanken Schönen ist so ansehnlich wie ihr wendiger Alt uns aufregend intensiv vom Ehrgeiz eines Liebesluders in den erotisierten Ohren tönt. Ihre arglose ältere Schwester Statira singt Sara Mingardo dagegen wunderbar weich und wohlig, mit der satten Tiefe einer barocken Urmutter Erda. Die beiden Rivalen Oronte und Arpago werden hier nicht etwa von Countertenören, sondern von Lucia Cirillo mit ihrem leidenschaftlich agilen Mezzo und der wie eine Abigaille soprankeifenden Sofia Soloviy frauenstark gegeben. Da haben es Anders Dahlin als chronisch friedlicher, lyrisch verliebter Tenorwarmduscher Dario und der wohltemperiert eloquente Bariton Riccardo Novaro als Hauslehrer Niceno fast schwer, neben so viel barockpraller Weiblichkeit zu bestehen.