Im zweiten Aufzug gibt es ein Chortableau von fast beängstigender Schönheit, ein mehrstimmiger, musikalisch vielfach gestaffelter, nie übertrieben pompöser Triumphgesang. Der Chor singt beseelt, das Beethovenorchester spielt licht und präzise. Alles, Ausstattung und Instrumentierung, Dirigat und Inszenierung stimmt zusammen. Die Zeit steht still im Opernhaus Bonn.
Dieser wirklich besondere Moment zeigt, was möglich sein könnte, mit diesem, auch nach der jetzigen Bonner Premiere, noch wieder zu entdeckenden Stück. Walter Braunfels, bis 1933 Rektor der Kölner Musikhochschule, schrieb es in der inneren Emigration. Die Nazis hatten ihn aus allen Ämtern, seine Musik aus den Opernhäusern und Konzertsälen vertrieben. Er widmete sich verzweifelt der geistlichen Musik und entdeckte ein altes Drama von Franz Grillparzer: Rustan hat den Alltag auf dem platten Land satt, will sich ausprobieren, kämpfen, ein Held sein. Er zieht nach Samarkand und verstrickt sich in seine Ambitionen, scheitert an der Versuchung der Macht. Kurz vor seinem Tod wacht er auf. Alles war nur ein Traum. Er nimmt den Alltag wieder auf, jetzt fröhlichen Herzens.
Was Braunfels an diesem Läuterungsdrama fesselte, erzählt die Musik. Die will Schichten des Unterbewussten gestalten, Figuren so psychologisch differenziert darstellen, mutmaßlich auch Grillparzers moraltheoretische Erwägungen versinnlichen. Der nahezu wörtlich vertonte Dramentext hingegen erscheint in seiner skrupulösen Subtilität auf der heutigen Opernbühne als uninteressant, phasenweise geradezu geschwätzig.
Regisseur Jürgen R. Weber malt den Traum in bunten Bildern, zusammengesetzt aus Einflüssen der 20erJahre und der Jetzt-Zeit, eine Art Kubismus-Fantasy, powered by Rudolf Steiner. Besonders die von Braunfels mit großer theatralischer Fantasie erfundenen Nebenfiguren beweisen in diesem Umfeld ihre Lebenskraft. Da swingt etwa eine aus dem Nichts auftretende Hexe (Anjara I. Bartz im durchaus passenden Zombie-Look) im tänzerischen Sprechgesang, der an die Berliner Operette denken lässt. Oft zieht sich Weber aber auf den Text zurück. Dann versiegt der Strom der so kraftvollen wie witzigen Bilder. Zumal der Regisseur sich nicht entscheiden kann, Vor- und Nachspiel, also das „einfache Landleben“, wirklich zu inszenieren. Er lässt die Hauptfiguren in schwarzen Alltagsklamotten aufmarschieren und Undurchsichtiges treiben, mit Klavierauszügen fuchteln, eine Wand bemalen…
So kommt man nicht an die Hauptfigur heran, auch weil Endrik Wottrichs robust gepanzerter Tenor überhaupt keine Farben mehr hat, mit der er Rustans Empfindungen, vor allem seine jugendliche Unsicherheit vermitteln könnte. Mark Morouse dagegen singt Zanga, Rustans Diener und bösen Geist, mit frei schwingendem Bass-Bariton. Die von Rustan begehrte Prinzessin ist vielleicht die anspruchsvollste Rolle, ausgestattet mit vielen Anklängen an die musikalische Textur von Strauss und Mahler. Manuela Uhl bewältigt sie glänzend mit ihrem vibratoarmen, höhensicheren und etwas kühlen Sopran.
Will Humburg erfasst das Werk vom Pult aus in seiner ganzen Schönheit, gestaltet einen oft kantigen, erstaunlich vielfarbigen, von den dreifach besetzten Holzbläsern angeführten Klang, in dem Celesta und Blockflöte, auch Schlagwerk und Trompeten besondere Klangbedeutung zukommt. Chor und Orchester folgen durchgängig präzise und mit lustvoller Begeisterung.
Theater Bonn
Braunfels: Der Traum ein Leben
Ausführende: Will Humburg (Musikalische Leitung), Jürgen R. Weber (Regie), Hank Irwin Kittel (Bühne), Kristopher Krempf (Kostüme); Endrik Wottrich (Rustan), Mark Morouse (Zanga), Manuela Uhl (Mirza/Gülnare), Rolf Broman (Massud/König), Anjara I. Bartz (Altes Weib), Graham Clark (Kaleb), Johannes Mertes (Karkhan), Josef Michael Linnek (Kämmerer), Ludwig Grubert (Mann vom Felsen), Christina Kallergis, Nina Unden (Genien), Beethoven Orchester Bonn, Chor des Theater Bonn
Termine: 06.04., 12.04., 07.05., 11.05. & 30.05.