Der See schlummert in herrschaftlicher Ruhe. Kaum mehr als einen Steinwurf entfernt liegt Puccini in der Privatkapelle seiner Villa begraben. Hier, am idyllischen Lago di Massaciuccoli, werden zu seinen Ehren Sommerfestspiele gefeiert. Aus dem weiten Rund einer am Ufer installierten Open-Air-Tribüne geht der Blick auch auf den hinter ihr liegenden See. Der Genius Loci spielt gehörig mit, die Stimmung stimmt. Auch die Akustik: Denn anders als beim Spiel auf dem See in Bregenz ist eine Verstärkung von Sängern oder Orchester hier mitnichten nötig.
Es geht hemdsärmlich zu bei diesen Puccini-Festspielen in der nördlichen Toskana, wo der Meister im nahen Lucca einst geboren wurde. Ein Programmheft gibt es nicht, aus dem Besetzungszettel geht immerhin hervor, dass Daniela Dessì die Titelpartie wie angekündigt singen wird: Sie gehört zu den besten Tosca-Diven der Welt. An vokaler Intensität und dramatischer Glaubwürdigkeit kann der Italienerin kaum eine Sopran-Kollegin das Wasser reichen.
Italienischer Abstiegskandidat: Es regiert das politisch-administrative Chaos
Von einer Alleinvertretung in Puccini-Dingen, wie sie in Pesaro für Rossini oder in Bayreuth für Wagner behauptet wird, kann freilich in Torre del Lago keine Rede sein: Das Festival schlingert. Das energetisch unterspannte Orchester lässt die Tosca-Aggressivität wie einen zahnlosen Tiger daherkommen, vieles an diesem Abend wirkt uninspiriert und ungeprobt. Symptome der italienischen Krise: Im administrativen wie politischen Hintergrund des Festivals brodelt es. Anfang Juli wurde der Festspielchef spontan ausgetauscht – der vom neuen Bürgermeister neu installierte Präsident macht sich seither bei den Künstlern unbeliebt. Eine erfolgreiche Regisseurin ersetzt er durch einen ihm genehmen Regie-Senior, vom Versuch nachträglicher radikaler Reduktionen der vertraglich vereinbarten Künstlerhonorare ist die Rede. Die friedliche Atmosphäre am See täuscht: Nach der Premiere zieht ein heftiges Gewitter auf, das der Lage in Torre del Lago wohl eher entspricht.
In Bregenz hat sich ein solches pünktlich vor der Premiere entladen. Den Wiedergeburten jener Terrakotta-Armee, die erst 1974 in der Grabanlage des Kaisers Qin Shi Huangdi entdeckt wurde, kann ein wenig Wasser von oben ohnehin nichts anhaben. Die maskenhaft dreinblickenden Krieger des alten China marschieren geradewegs in Reih und Glied aus dem Gewitterhimmel in den See – und damit in den eigenen Untergang. Marco-Arturo Marelli wählt die Krieger als Signet seiner Inszenierung der Turandot. Als Regisseur und Bühnenbildner in Personalunion setzt Marelli deutliche Zeichen der brutalen männlichen Macht. So schlängelt sich auf dem Bodensee gleich einem bedrohlichen Drachen des fernen Osten die chinesische Mauer über stolze 72 Meter Bühnenbreite. Marelli bedient damit nicht einfach nur die Erwartungen an die augenprächtige Seebühnenproduktion der Festspiele, die bis zum Sommer 2016 insgesamt bis zu 400.000 Menschen anziehen soll; er macht auch deutlich, welch einem menschenverachtenden Apparat die Liebe von Turandot und Calaf ausgesetzt ist.
Bodenseespektakel mit Regietheater-Ambition
Gelingt in Bregenz eine das Auge kitzelnde Open-Air-Oper mit gleichzeitiger Regietheater-Ambition? Elisabeth Sobotka, die neue Intendantin, setzt darauf, das populär Unterhaltende mit dem anspruchsvoll Exzeptionellen zu versöhnen. Diese Turandot schafft die künstlerische Quadratur des Kreises: Fahnenschwinger und Feuerjongleure sorgen für das einen jeden befriedigende Spektakel – dramaturgisch klug Gedachtes macht die Inszenierung feuilleton-kompatibel. Das Gigantische trifft auf das Kammerspiel-Intime. Stefan Herheims genialische Regie-Vollendung von Offenbachs Hoffmanns Erzählungen im wetterfesten Festspielhaus hievt die Bregenzer Opernsommerfrische gar ganz nach oben: Hier findet eine epochale Neudeutung statt.
Über die diesjährige große Mozart-Premiere in Glyndebourne kann man das nicht sagen. David McVivar lässt seinen Mozart historisch naturalistisch vor, hinter und in den Palastmauern des Serails spielen. In suggestiven Räumen aus Tausendundeiner Nacht wird liebevoll konventionell Die Entführung aus dem Serail erzählt. Was sehr gut funktioniert. McVivar nutzt den vom Libretto vorgegebenen Rahmen für psychologischen Feinschliff und durchaus deutliche Kommentare zum interkulturellen Miteinander.
Englisches Plädoyer wider die Singspielniedlichkeit
Grandios indes, welch ein Mozartbild Robin Ticciati mit dem famosen Orchestra of the Age of Enlightenment malt. Er setzt mit dem Ensemble das Konzept einer feinnervigen musikalischen Rhetorik in die Tat um. Keine Singspielniedlichkeit degradiert Die Entführung zur billigen Vorübung der Da-Ponte-Opern. Glyndebournes junger Musikchef durchpulst jede Phrase mit frischem Mozartblut. Da ist eine so unbändige historisch informierte Inspiriertheit, die jedes staatstheatralisch behäbige philharmonische Mozartmusizieren alt aussehen lässt.
Atmosphärischen Zauber wie im rosengezierten Picknick-Park von Glyndebourne gibt es auch bei den Festspielen in Heidenheim. Die letzten Meter hinauf zur Rittersaal-Ruine muss der Besucher emporschreiten, durch den stimmungsvollen Hofplatz vorbeipilgern am Renaissance-Schloss, um schließlich einzutreten in die imposanten Mauerreste der Burg Hellenstein. Von ihr stehen gerade noch so viele resonierende Seitenwände, dass die Sänger bestens zu verstehen sind. Und der gestirnte Sommerhimmel spielt gnädig mit – das befürchtete Gewitter bleibt aus.
Festival folgt Fußball: Heidenheims Drang nach oben
Hier finden bereits zum 51. Mal sommerliche Festspiele statt. Seit Marcus Bosch als Intendant die Geschicke lenkt, sind sie in die zweite Liga der Opernfestivals aufgestiegen – Heidenheims Fußballmannschaft lässt grüßen. Was sich hier in Operndingen tut, ist bemerkenswert. Da paart sich auf höchste Professionalität mit einem festival-familiären Do-it-yourself-Geist: Das Authentische, nicht das Gewollte, hier wird’s Ereignis. Da gibt es einen Intendanten zum Anfassen, der nicht nur exzellenter Maestro, sondern auch kluger Netzwerker ist. Da gibt es einen Bürgermeister und einen Kulturamtsleiter, die derart für die Kultur brennen, dass sie den städtischen Zuschuss erhöht haben. Und da gibt es in diesem Jahr eine Sängerbesetzung, die deutlich macht: An der Brenz strebt Bosch jetzt in die erste Liga! Denn mit Antonio Yang und Melba Ramos ist das mörderische Paar des Macbeth und seiner Lady erstklassig besetzt – die beiden Sänger machen den auch selbstzerstörerischen Zerfallsprozess ihrer Figuren grandios deutlich. Mit seiner Werkwahl lehrt Heidenheim nicht zuletzt: Ein Shakespeare-Schlachthaus mit Verdis grandioser Musik taugt sehr wohl zum Sommernachtstraum auf der Schwäbischen Alb. Die Freude am Festivalgenuss verträgt sich mit höchstem künstlerischen Anspruch und profundem Nachdenken über die Abgründe und Höhenflüge des Menschseins.