Aus der Ewigen Stadt tönt ein Menetekel. Am ehrwürdigen Opernhaus von Rom wurden die teuren Kollektive von Orchester und Chor entlassen. Zwar dürfen die auf die Straße gesetzten 184 Musiker künftig an ihre Wirkungsstätte zurückkehren, freilich dann als Tagelöhner, die dem Opernhaus als Selbstständige ihre Dienste anbieten. Umgehend hagelt es Kritik aus der Berliner Republik, die Intendanten der drei Opernhäuser der Hauptstadt fürchten eine fatale Signalwirkung weit über Italien hinaus und fordern, die Entscheidung zu überdenken: „Denn Kunst braucht Sicherheit – der unverwechselbare Klang eines jeden großen Opernchores und -orchesters ist das Resultat einer langen Aufbauarbeit, die nur unter sicheren sozialen Rahmenbedingungen geleistet werden kann.“ Wie wohl die Solidaritätsbekundung den Seelen der betroffenen Künstlerinnen und Künstler auch tun mag, so dürfte sie doch eine offene Diskussion über die Zukunft der Oper eher verhindern.
Besitzstandswahrung reicht nicht mehr länger
Hierzulande mögen wir von „italienischen Verhältnissen“ zwar weit entfernt sein, doch auf vergleichbare Diskussionen wie im Mutterland der Oper werden sich die Musiktheatermacher einstellen müssen – und wird es dann noch reichen, sich darin auf Besitzstandswahrung zu beschränken? Braucht die Produktion dieser hochkomplexen Kunst wirklich an erster Stelle Sicherheit, um zu schönster Blüte heranzuwachsen? Oder dient womöglich gerade gewachsenes Risiko der Entstehung großer Kunst? Über Jahrhunderte war die Antwort hierzulande eindeutig. Das weltweit einmalige deutsche Stadttheater sorgte, erst feudal, dann föderalistisch finanziert, flächendeckend von Flensburg bis Freiburg für kulturelle Grundversorgung von Monteverdi bis Wagner: ein famoses, allerorts verfügbares Angebot für alle Menschen. Eine reichhaltig vorhandene Theaterprovinz garantierte gut ausgebildeten Künstlern ihren direkten Einstieg in die Karriere. Und die öffentlichen Geldgeber sahen im eigenen Theater die geistig-kulturelle Mitte des Gemeinwesens. Zwei Grundpfeiler befestigten es: Erstens ein festes Ensemble, das die persönliche Identifikation des Publikums mit seinem Theater sicherte. Und zweitens das Repertoiresystem als Produktionsform wie als möglichst breites Angebot des Theaterkanons.
Aber ist das Stadttheater und seine üppig alimentierte Spielart im Staatstheater noch das Maß aller Dinge? Der Maximierung von Qualität steht es mit seinem ständigen Wechsel von vielen kaum geprobten Wiederaufnahmen und immer wieder neuen Besetzungen auf der Bühne und im Orchestergraben prinzipiell entgegen. Das in West- und Südeuropa praktizierte Stagione-Prinzip hingegen sichert Spitzenergebnisse an jedem Abend: Denn in Holland oder Frankreich wird eine Produktion perfekt geprobt und geht von der Premiere bis zur letzten Vorstellung in unveränderter Besetzung und Qualität über die Bühne.
Frei vom Repertoirezwang Neues wagen
Bezieht man in die Kriterien von Qualität auch den Grad von inhaltlicher Innovation ein, dann fallen im deutschsprachigen Musiktheater eben jene Produzenten positiv auf, die ohne feste Ensembles und frei vom Repertoirezwang Neues wagen. Da hat sich das Theater an der Wien zum spannendsten Opernhaus der wichtigsten Musikmetropole Europas gemausert und überflügelt die traditionssatte Staatsoper. Da erweitert die Ruhrtriennale entschieden den musiktheatralischen Werkbegriff, bringt in den Industriekathedralen Unerhörtes zur Uraufführung. Da ist in den internationalen Koproduktionshäusern wie Kampnagel in Hamburg, aber auch vielen kleinen privaten Kammeroper-Kompagnien ein Musik- und Tanztheater zu erleben, das die Traditionshäuser umso älter aussehen lässt.
Der Erfolg funktioniert mit schlanken Apparaten, guten Kontakten und manchmal leider auch prekären Beschäftigungsverhältnissen von selbstständigen Künstlern, dafür aber ohne die Beamtenmentalität mancher deutscher Opernorchester. Ob es ein Zufall ist, dass die beste Zauberflöte meines Lebens ganz ohne Orchester auskam? Peter Brooks am kleinen Pariser Théâtre des Bouffes du Nord gelungener Geniestreich Eine Zauberflöte kommt in seiner maximalen Reduktion und den opernhungrigen Nachwuchssängern seinem Mozart näher als staatstheatralischer Ausstattungspomp es je vermögen würde. Wenn der Berliner Senat irgendwann das Ensemble eines der drei großen Opernhäuser in die Selbstständigkeit entließe und daraus ein europäisch vernetztes Theater der international gastierenden Spitzenproduktionen mit Regiemarken wie Waltz, Wilson oder Fura dels Baus machte – würde unsere Kulturnation dann wirklich untergehen?
Wenn Kulturpolitik künftig mehr als Sparpolitik sein will, kommt sie um die Systemfrage nicht herum. Muss maximale Vielfalt, das einst prägende Stadttheaterprofil, wirklich unter einem Dach hergestellt werden? Bedarf es nicht einer kulturpolitischen Vision für eine lebendige Szene in Form eines Gesamtplans? Der dann die ganze Breite von freien Spezialistengruppen für zeitgenössisches und barockes Musiktheater sowie Festivals bis zum Stadt- und Staatstheater umfasst? Der Subventionen gezielt in jene Bereiche lenkt, in denen qualifizierte künstlerische Profilbildung herrscht? Der dazu aber auch hartherzig jenen die Zuwendung entzieht, die nur noch den Mangel verwalten? Die oft geforderten Ziele der spartenübergreifenden Durchdringung, der Erschließung neuen Repertoires und neuer Räume, müssen ihre strukturellen Entsprechungen finden. Die Form muss wieder dem Inhalt folgen. Kunst braucht Freiheit. Die Opernhäuser in die Luft zu sprengen, wie Pierre Boulez 1967 forderte, wird dazu gar nicht nötig sein.