Diesmal gibt es keine Raum-Bühne. Obwohl Sebastian Hannak verantwortlich ist und sein Name mittlerweile für mehrere, für verschiedene Stücke nutzbare Raumbühnen steht. In Halle war das während der Intendanz von Florian Lutz schon so. Und auch in Kassel gehörte sein Pandämonium genannter Ausbau des Bühnen- und zum Teil des Zuschauerraums zur Visitenkarte eines künstlerischen Neuanfangs im Musiktheater der documenta-Stadt. „Wozzeck“, „Tosca“, das „Weihnachtsoratorium“ – neue Sichtweisen und – im wahrsten Sinne – andere Perspektiven auf die Stücke allenthalben.
Guckkasten statt Raumbühne
Aber Hannak kann auch Guckkastenbühne. Oder, wie gerade bei Meyerbeers „Feldlager in Schlesien“ in Bonn bewiesen, irgendwas dazwischen. In Kassel wird diesmal (wenn mal so will, als augenzwinkernde „Parsifal“-Paraphrase) zur Abwechslung die Zeit zum Raum. Oder der Raum für die Kollision von Zeiten. Oder so ähnlich. In Dietmar Daths vielschichtig zwischen verschiedenen Genres mäanderndem Text, der erst „Blitze sprechen deutsch“ heißen sollte und jetzt – etwas kryptischer, aber auch poetischer – als „Einbruch mehrerer Dunkelheiten“ kurz vor der Eröffnung der documenta 15 im Staatstheater, zwischen dem Fredericieanum und dem documenta-Pavillon, seine Uraufführung erlebte und bis zum 15. Juli noch acht Mal auf dem Programm steht, treffen nämlich verschiedene Zeiten aufeinander. Zunächst so, wie man das gemeinhin kennt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als abgeschlossene Einheiten vergangener, vergehender oder antizipierter Zeiten als Gefäß für Denken, Fühlen und Tun der Menschen.
Allzu deutsche Vergangenheit
Schon der Bezug auf den Saal der Nürnberger Prozesse verankert alles, was passiert, in einer konkreten deutschen Vergangenheit und ihren Folgen bzw. verdrängten Nachwirkungen. Was durchaus in eine im Krieg stark zerstörte und an Waffenproduzenten reiche Stadt wie Kassel passt. Wenn dann mit einem musikalischen Verweis auf das Klimpern der Nibelungen im „Rheingold“ aus der Versenkung ein mit lauter Computer-Arbeitsplätzen ausgestattetes geheimes Labor auftaucht, darf man das durchaus als dystopischen Blick in die Zukunft verstehen. Und wenn Dath über dem Personal seines Plots einen Adler kreisen lässt, dann bietet sich natürlich als szenisches Pendant der Bundesadler an, der auch in unserem Parlament eine ikonographische Verkörperung des Staates an sich ist.
Felix Leuschner ist „Schlagzeuger, Electronic Performer, Coder und Hardware-Hacker“
Aber hier geht es auch um die Zeit selbst, einen Blick auf deren Dichte sozusagen. Die Blitze sind nämlich hier ein Synonym für eine Intelligenz, die auf nicht mehr wahrnehmbare Bruchteile einer Sekunde verdichtet ist. Für den Komponisten Felix Leuschner, zu dessen Charakteristik das Programmheft „Schlagzeuger, Electronic Performer, Coder und Hardware-Hacker“ der Tätigkeitsbeschreibung hinzufügt und dessen musikalische Sprache sich nicht auf einen Nenner bringen lässt, weil sie nach vielen Seiten offen, aber dem Bühnengeschehen eng verbunden ist, war es wohl eine der reizvollsten Aufgaben, diese Zeitanomalie hörbar zu machen. So wie für Regisseurin Florentine Klepper (und Choreografin Deva Schubert) dafür eine szenische Sprache zu finden, die auf die Echtzeit auf der Bühne und im Saal reagiert. Gehört es doch (ähnlich wie bei einem barocken Libretto) zum eher intuitiv komplex, als linear und in jedem Halbsatz zu erfassenden Geschehen, dass die Hauptfiguren des Stückes, nämlich der „Geldspieler“ und sein Wissenschaftler „Doktor Interelektro“, versuchen, mit den Blitzen zu kommunizieren. Also die Grenze zwischen Paralleluniversen zu überwinden, oder, wenn man so will, sich über den Rand eines schwarzen Loches zu beugen.
Generalmusikdirektor Francesco Angelico legt sich für die neue Partitur mächtig ins Zeug
Um bei dieser Absurdität am Ball zu bleiben, ist der Versuch, sozusagen vom Saal aus den Kontakt zum Bühnengeschehen zu halten, eine erfolgversprechende Haltung. Der des Staatsorchesters Kassel, Francesco Angelico, der sich bei dieser abenteuerlustigen, aber nicht wirklich verschreckenden musikalischen Grenzgängerei mit Vehemenz ins Zeug legt, gibt da durchaus den Maßstab für Offenheit und Neugier vor! Die Blitze oder Phänomene sind also eine eigene Welt. Die Stimme von Bassbaritonistin Sam Taskinen liefert das Material, in dem sie „in einen Klaggenerator, einen Oszillator verwandelt, der dann – ganz wie in der klassischen subtraktiven Synthese – durch Filter, Hüllkurven und Effekte seine Formung erfährt.“ Auch wenn man das, was da im Programmheft beschrieben wird, nur zur Kenntnis nimmt, ohne es bis ins letzte nachvollziehen zu können – auf der Bühne funktioniert es. Wenn sich die so verfremdet singende Taskinen und weitere fünf Tänzer durch den Raum bewegen (eine der Tänzerinnen am Anfang sogar mitten aus dem Zuschauerraum über die Sitzreihen) und gleichzeitig alle anderen bis zur Erstarrung verlangsamt sind, erschließt sich diese Kollision des nicht fassbaren mit der Wirklichkeit allemal.
Bei aller Absurdität: Es gibt auch eine sich erschließende Handlungsebene
So abgedreht das alles klingen mag – es gibt auch eine sich unmittelbar erschließende Handlungsebene, der man über die 100 Minuten wie bei einem Science-fiction-Thriller folgen kann. Und die geht ungefähr so: Gegen den Geldspieler und den ihm assistierenden und wie aus einer fernen Galaxis importiert wirkenden Bewaffneten werden Ermittlungen geführt. Schauspielerin Rahel Weiss ist die, die mit dem Geld spielt. Sopranistin Caroline Melzer ist die Bewaffnete. Was wohl heißt, dass es um die Vermehrung von Geld als Profit mit allen Mitteln geht. Dieses Spiel mit dem Geld wird als Show zelebriert. Der Akteur im Zentrum ist so eine Art Elon-Musk-Wiedergänger. Was schon deshalb als Assoziation naheliegt, weil der gerade in Brandenburg demonstriert hat, wie man die deutsche bürokratische Normalzeit mit dem davon völlig abweichenden Musk-Tempo kreuzen kann. Mengqi Zhang und Clara Soyoung Lee wollen als Ermittlerinnenduo mit hohem Sopran und sich gegenseitig die Sätze vollendend wissen, was der Geldspieler mit seinem Geld treibt. Doktor Interelektro (der Counter Bernhard Landauer, mit Lockenkopf und in weißem Anzug, ständig zwischen gesprochenen und gesungenen Passagen wechselnd) und seine Forschungen zur Intelligenz der Blitze und die Suche nach der Kommunikation mit ihnen, ist ein Teil der Antwort. Oder eigentlich doch besser der Fragen, die der Abend stellt.
Hegel hilft
Der geheimnisvoll als Sprechchor raunende Adler-Staat oder das mitunter archaisch grunzende, goldfunkelnd mit Waffen behängte Monster (mit teilweise verfremdetem Mezzo: Maren Engelhardt) als personifizierte Entfremdungsphänomene? Seinem Geldspieler billigt Dath (in gut mephistophelischer Tradition) nicht nur den meisten gelegentlich wohltuenden Wortwitz, sondern auch den erhellenden Gedankenblitz zu. Der weiß nämlich, dass alle für sein Geld und das Geld für ihn arbeiten. Und er hat Hegel parat (er hätte auch Marx nehmen können), der das zunehmende Ersetzen der menschlichen Arbeit durch Maschinen voraussagt. Und der – gut neoliberal mit Ronald Reagan – die Regierung nicht für die Lösung unserer Probleme, sondern für das Problem selbst hält.
Dass Adler und Geldspieler damit die Abschaffung von Menschen durch Töten diskutieren, ist schon ein ziemlich pessimistischer Tobak. So wie das Resümee des Geldspielers „Die Welt ist aus. Ich bin pleite.“ Das letzte Wort aber ist die neu gestellte Frage „Was treibt Ihr Geld hier mit Ihnen?“ Und da ist die Antwort – wie die Geschichte – zum Glück offen.
Staatstheater Kassel
Felix Leuschner: Einbruch mehrerer Dunkelheiten
Francesco Angelico (Leitung), Florentine Klepper (Regie), Sebastian Hannak (Bühne), Miriam Grimm (Kostüme), Jürgen Kolb (Licht), Kornelius Paede (Dramaturgie), Deva Schubert (Choreografie), Mengqi Zhang, Clara Soyoung Lee, Caroline Melzer, Bernhard Landauer, Rahel Weiss, Sam Taskinen, Beatrice Ieni, Iris Posthumus, Klil Ela Rotshtain, Dario Wilmington, Maren Engelhardt, Staatsorchester Kassel
An entry is required