Im Laufe eines Lebens erzeugt der Mensch in Hülle und Fülle Dokumente, wie Briefe, Notizen, Verträge oder Testamente, die fragmentarisch sein Wollen, Können und Streben archivieren. Wird man wie Emilia Marty (Elissa Huber) über 330 Jahre alt, summiert sich die Zahl dieser Dokumente, die zentraler Handlungsgegenstand in „Die Sache Makropulos“ sind, natürlich ins Unermessliche. Dies visualisierend zeigt die von Raimund Bauer geschaffene Bühne zu Beginn des ersten Aktes die Kanzlei von Dr. Kolenatý (Darcy Carroll) als zum Archiv überzeichneten Dokumentenhort, der offenbar nichts enthält als Akten zum Erbstreit zwischen den Familien Prus und Gregor.
Zur emotionalen Interaktion kaum mehr fähig
Und damit zwangsläufig zu Emilia Marty, die im Verlauf ihrer langen Biografie zur Mutter des illegitimen Erbens Ferdinand Gregor wurde und damit einst den Startpunkt der Auseinandersetzung setzte. Elissa Huber spielte die Partie der Emilia Marty mit einer körperlichen Agilität und einer ausdifferenzierten Mimik, die man so für gewöhnlich nur vom Sprechtheater erwarten kann und gestaltete einen zur echten emotionalen Interaktion kaum mehr fähigen Charakter. Der schauspielerischen Leistung stand die sangliche in nichts nach. Das durchweg überzeugende Ensemble verstärkte Hubers Leistung, und so bereitete es beim Zuschauen und -hören echte Freude, wie Huber/Marty den Avancen ihres Nachfahren Albert Gregor (Aaron Cawley) auswich. Oder wie sich Janek Prus (Gustavo Quaresma) von ihr bezirzen lässt, über den sie an „Die Sache Makropulos“, das Rezept für das von ihrem Vater erfundene lebensverlängernde Elixier, heranzukommen versucht.
Skrupellose Autorität
Spannend war auch die darstellerische Leistung von Jiří Sulženko, der dem Charakter des Jarsolav Prus eine Ausstrahlung skrupelloser Autorität verlieh. Als er seinen Sohn beim Versprechen, Emilia Marty „Die Sache Makropulos“ zu überlassen, erwischt, unterbindet er dies kurz und bündig. Nur um unmittelbar darauf die Möglichkeit der Erpressung mit dem Dokument dazu zu nutzen, mit Marty eine gemeinsame Nacht in einem Hotel zu verbringen. In der kleineren Partie der Sängerin Krista, Tochter des Anwaltsgehilfen Vítek (Erik Biegel) und Freundin des Janek Prus, überzeugte Fleuranne Brockway mit der Darstellung der emotionalen Ausbrüche einer jungen Frau, die sich in ihrem eigenen künstlerischen Streben vom Können und vom Ruhm der Emilia Marty verunsichern lässt und die im späten Verlauf der Handlung ihren Partner Janek Prus verliert, als dieser Selbstmord begeht.
Das alles dominierende Archiv
Echte Freude am Spiel zeigte von Anfang an Erik Biegel in der Partie des Anwaltsgehilfen Vítek, der sich zu Beginn der Oper durch das labyrinthische Archiv bewegt, dabei geöffnete Schubladen als Treppenstufen nutzend, um von diesen aus höhere Schubladen erreichen zu können. Und mit einem Gestus der Selbstverständlichkeit bei Bedarf auch ein Telefon aus den Schubladen der Archivschränke zauberte. Ein Kunstgriff, der noch ein solch simples Requisit dem Gedanken des alles dominierenden Archivs unterordnet. Das Hessische Staatsorchester Wiesbaden unter der Leitung von Johannes Klumpp musizierte die expressive, schroffe Harmonik der sehr charakteristischen Tonsprache Janáčeks souverän und meisterte die oft schwer zu intonierenden Passagen beinahe durchweg sauber. Die sequenziellen Abschnitte der Partitur und fragmentarisch konzipierte musikalische Motive, die ohne eine gründliche Erarbeitung durch das Orchester beim Hören schwer verständlich bleiben, ließen sich so auch für weniger geübte Ohren besser als ästhetisches Prinzip verstehen und erschließen.
Ausbruch aus der linearen Erzählzeit
Nach der gemeinsamen Nacht mit Jaroslav Prus hascht Emilia Marty mit schwindenden Kräften immer verzweifelter nach „Der Sache Makropulos“ und dem lebensverlängernden Elixier. Elissa Huber vermittelte hierbei nicht nur das Existenzielle dieses Strebens, für die über 330 Jahre alte Emilia Marty geht es schließlich um Leben und Tod, sondern auch das Entmenschlichende einer so langen Lebensspanne. Die Zeit hat in ihr eine übermächtige Gleichgültigkeit gegenüber allem erwachsen lassen. Nicht zuletzt hat sie die Zeit auch lebensmüde gemacht, wie sie sich schließlich eingestehen muss.
Im Verlauf des dritten Akts trifft Nicolas Brieger schließlich die Entscheidung, aus der linearen Erzählzeit auszubrechen, und wechselt unvermittelt in die Szene des Archivs. Hier sind die Köpfe sämtlicher Protagonisten in Schubladenfächer der Aktenschränke gebannt und keine handelnden Charaktere mehr, sondern bloße Repräsentationen ihrer bereits abgeschlossenen und dokumentierten Biografien. Nur die Figur der Krista tritt folgerichtig noch einmal aus ihrem Archivgefängnis hervor, um von Emilia Marty die Sache Makropulos entgegenzunehmen und sie zu verbrennen.
Stetig wachsende Archive der Selbstdokumentation
Diese Handlung kann hier nur eine erinnerte oder reproduzierte sein und wird so, als Abschluss der Oper und somit gleichsam zur Entlassung des Publikums aus dem Makropulos-Museumsarchiv, von einer unmittelbaren in eine mittelbare Handlung umgedeutet. Ein über die Opernhandlung hinausweisender Kunstgriff, der für das Publikum greifbar macht, dass wir uns im Zeitalter der exzessiven Selbstdokumentation in Form von Selfies und Social Media Posts stetig wachsende Archive unserer eigenen Biografien erschaffen.
Staatstheater Wiesbaden
Janáček: Die Sache Makropulos
Johanns Klumpp (Leitung), Nicolas Brieger (Regie), Raimund Bauer (Bühne), Andrea Schmidt-Futterer (Kostüme), Valentí Rocamora i Torà, Elissa Huber, Aaron Cawley, Erik Biegel, Darcy Carroll, Fleuranne Brockway, Jiří Sulženko, Gustavo Quaresma, Mikhail Biruykov, Ralf Rachbauer, Romina Boscolo, Chor & Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, Hessisches Staatsorchester Wiesbaden