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Ballett-Kritik: Deutsche Oper Berlin – Minus 16

Ornament und Leidenschaft

(Berlin, 25.10.2024) Die Fliehkräfte des Begehrens im Schnittpunkt von Angst und Geometrie: Mit „Saaba“ von Sharon Eyal und „Minus 16“ von Ohad Naharin eröffnet das Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper die neue Saison.

vonIrene Bazinger,

Was gibt es für die Zuschauer in einer Aufführung Schlimmeres, als wenn sie auf die Bühne gezerrt werden? Wenn sie unfreiwillig die Bretter betreten müssen, die eigentlich die Welt bedeuten – und deshalb den Künstlern vorbehalten sein sollten? Wen es erwischt, der leidet, und wen es nicht erwischt, leidet mit. Nicht so allerdings in der Deutschen Oper Berlin, wo das Staatsballett mit Choreografien von Sharon Eyal („Saaba“) und von Ohad Naharin („Minus 16“) die neue Saison eröffnet. Denn da strömen die Tänzerinnen und Tänzer am Schluss von „Minus 16“ in den Saal und schauen sich die Leute genau an. Dann bringen sie alle jemanden mit auf die Bühne, die oder der Freude am Tanzen zu haben scheint. Wenn es in der Premiere tatsächlich eine zufällige Auswahl war und keine Eingeweihten darunter waren, wirkte das hinreißend wie basisdemokratisch: Die durchtrainierten Profis in ihren schwarzen Anzügen, die perfekte Bewegungen gestalten, und ihnen gegenüber die Laien in ihren Alltagsklamotten, die – höflich-liebenswürdig animiert – freudig mitmachten, so gut es eben ging. Egal, ob Mann oder Frau, alt oder jung, dick oder dünn, niemand wurde hier denunziert, sondern alle schienen den Moment zu genießen: Reines Glück!

Szenenbild aus „Minus 16“ an der Deutschen Oper Berlin
Szenenbild aus „Minus 16“ an der Deutschen Oper Berlin

Kunstvoller Querschnitt

Entsprechend vergnügt und lächelnd verließ das Publikum die Deutsche Oper Berlin, entspannt und auf leichtem Fuß. Wann ist so etwas schon zu erleben? Dabei ist „Minus 16“ kein neues Stück, es wurde bereits 1999 vom Nederlands Dans Theater II uraufgeführt und beinhaltet Ausschnitte aus früheren Werken des 1952 in Israel geborenen Choreografen. Ob mit populärer kubanischer oder israelischer Musik, mit Cha-Cha-Cha oder Frédéric Chopin, bietet es einen Querschnitt des kunstvollen Formenvokabulars aus Ornament und Leidenschaft, wie es Naharin entworfen hat. Natürlich wird der berühmte Stuhlkreis aus „Echad Mi Yodea“ gezeigt, in dem sich Workflow, Rhythmus, Stimme, Musik temperamentvoll-präzise vereinen.

Szenenbild aus „Saaba“ an der Deutschen Oper Berlin
Szenenbild aus „Saaba“ an der Deutschen Oper Berlin

Energetisch hoch aufgeladene Tanzrhetorik

Ohad Naharin ist Hauschoreograf der Batsheva Dance Company in Tel Aviv, die zur Weltspitze des zeitgenössischen Tanzes zählt. Dort war auch Sharon Eyal, geboren 1971 in Jerusalem, jahrelang als Tänzerin und Choreografin engagiert. Ihre energetisch hoch aufgeladene Tanzrhetorik, die sich aus der Dynamik eng geführter Kollektive speist, bestimmt auch „Saaba“, uraufgeführt 2021 von der Göteborgs Operans Danskompani. Das Ensemble erscheint fast nackt, trägt aber hautenge, fleischfarbene Kostüme von Maria Grazia Chiuri, „deren Textur es erlaubt, sich in Dior-Spitze aufzulösen“ – kein Wunder, schließlich ist diese seit 2016 die erste künstlerische Leiterin des französischen Modehauses, und Eyal wirkte an dessen Modeschauen mit. In dem gedämpft beleuchteten leeren Bühnenraum mit etwas Hochnebel baut Sharon Eyal ein wie unter Storm stehendes Ensemble auf, dass sich immer wieder in ornamentalen Strukturen zusammenfindet, ehe es diese mit entfesselter Kraft auflöst. Erdacht in den tanzlosen Monaten der Corona-Zeit, flicht Eyal introspektiv Sequenzen mit einzeln auftretenden Tänzern ein, denen die anderen mit deutlichem Sicherheitsabstand folgen. Nähe wird gesucht, doch die Distanz ist stärker. Für die suggestiv zupackende Musik ist Ori Lichtik zuständig, der die orientalischen Pattern vom Anfang bald zum Clubbing-Sound der wilden Techno-Jahre aufmischt.

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Szenenbild aus „Saaba“ an der Deutschen Oper Berlin
Szenenbild aus „Saaba“ an der Deutschen Oper Berlin

Im Schnittpunkt von Angst und Geometrie

Die Masse Mensch kämpft, mal arabesk im Trippelschritt, mal zackig roboterhaft, wie gegen Dämonen, die sie alle quälen. Nach Heiner Müller entsteht Theater nur auf dem Schnittpunkt von Angst und Geometrie, mal ist die eine im Vordergrund, mal die andere. Man sieht das auch bei „Saaba“ gut, wenn sich die Wellenlinien, die das Ensemble geschliffen bilden kann, im Raum brechen, als habe sie ein unerwarteter Panikschub aufgehalten. Sehr druckvoll, ja muskulös ist dieses Wechselspiel zwischen dem einen und den vielen, zwischen Punkt und Strich, zwischen Karte und Gebiet. Die in existentielle Vakanzen stürzenden Fliehkräfte des Begehrens verbinden beide Choreografien auf ihre eigene Weise – so unterschiedlich wie ähnlich, so düster wie heiter, und empathisch den Illusionen der herzoffenen Schönheit verpflichtet.

Deutsche Oper Berlin
Eyal / Naharin: Minus 16

Sharon Eyal & Ohad Naharin (Choroegrafie), Staatsballett Berlin






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