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Ballett-Kritik: Oper Leipzig – Romeo und Julia

Ballett-Glücksstück

(Leipzig, 26.10.2024) Die Amerikanerin Lauren Lovette choreografiert an der Oper Leipzig Sergej Prokofjews berühmte Partitur zu „Romeo und Julia“ als brillant realisiertes Tanzspiel über junge und schöne Menschen.

vonRoland H. Dippel,

Die aus Russland stammende Dirigentin Anna Skryleva denkt beim berühmtesten Liebespaar des europäischen Kulturkreises wie die amerikanische Choreografin Lauren Lovette mehr an Julia als an Romeo. Erst vor zwei Jahren feierte Sergej Prokofjews berühmte Partitur in der Choreografie von David Dawson an der Semperoper Premiere. Das Ballett Halle in der Choreografie von Michal Sedláček war genau einen Tag früher dran als Leipzig. Die am Samstagabend frenetisch gefeierte Neuproduktion des Leipziger Balletts war die erste in der Amtszeit des kuratierenden Spartenleiters Rémy Fichet. Er kam während der noch immer als Legende betrachteten Ägide von Uwe Scholz ans Haus und wurde im September 2024 Nachfolger von Ballettdirektor Mario Schröder. Fichet ist ein Anhänger des neoklassischen Tanzes und der französischen Balletttrainingskultur, tendiert eher zum Handlungs- als zum sinfonischen Ballett. Das Publikum und viele Ehrengäste jubelten sich nach „Romeo und Julia“ fast in Ekstase.

Szenenbild aus „Romeo und Julia“ an der Oper Leipzig
Szenenbild aus „Romeo und Julia“ an der Oper Leipzig

Sinfonisches Ballett

Ob Fichet das mitbedacht hatte? Denn ein noch größerer Ovationen-Tsunami überflutete das Gewandhausorchester. Es war definitiv edelste Spitzenklasse, was da aus dem Graben tönte. Der ständige Wechsel zwischen lyrischen Flächen und Prokofjews kantigen Massenszenen zum 1938 in Brünn uraufgeführten und ursprünglich mit Happyend geplanten Handlungsballett imponiert. Dunkle Schroffheiten zu William Shakespeares Tragödie erklingen am Augustusplatz so gepflegt und brillant wie die langsamen Sätze der Liebesszenen. Anna Skryleva will mit der russischen Art des Ballettdirigats – also den sehnig-opulenten und etwas pathetischen Verdichtungen à la Gennady Rozhdestvensky und Algis Shuraitis – nichts zu tun haben. Diszipliniert und elegisch orientiert sie sich dafür an den hochkarätigen Gewandhausorchester-Tugenden: Kantable Schönheit mit Suchtfaktor, aber auch mit Vermeidungsstrategien gegen Prokofjews brodelnde Nerven-Dramatik. Die Warnfunktion des Plots gegen überhitzte Leidenschaft bei Shakespeare und anderen Bearbeitungen waren für Lovette und Skryleva irrelevant.

Szenenbild aus „Romeo und Julia“ an der Oper Leipzig
Szenenbild aus „Romeo und Julia“ an der Oper Leipzig

Jugendkult

Aus Fichets Bekenntnissen zu Scholz und Neoklassik geht hervor, dass er Schröders schön gedachte Vergegenwärtigungsideen wie zu „Johannespassion“ und „Giselle“ mit eigenen Mitteln fortsetzen wird. Man wollte also weg vom Renaissance-Verona der originalen Handlungszeit, wie es der jetzt zu Filmehren gekommene John Cranko mit fast berstender Ballett-Spannung aufheizte. Backstage-Theater auf dem Theater also wie im Landestheater Salzburg vor zwei Jahrzehnten: Da waren die Liebenden von Verona in einer Inszenierung von Gounods Oper „Roméo et Juliette“ Sängerinnen und Sänger auf einer Orchesterprobe.

Lauren Lovette, geprägt durch eigene Auftritte als Julia beim New York City Ballet, machte die in Shakespeares Tragödie mehrfach erwähnte und 2022 zum Film-Mittelpunkt gewordene Rosalinde (Madoka Ishikawa) statt der alten Amme zu Julias Vertrauter. Mehr Feingefühl als für den Friedensplan des Pater Lorenzo (Vincenzo Timpa) setzte Lovette in Bewegungsfolgen für das Freundschaftstrio von Romeo mit dem aufgewerteten Benvolio (Landon Harris) und Mercutio: Marcelino Libao ist ein virtuoser wie sensibler Drahtzieher, im Cast als katzenartiger Kumpan und Kobold gibt er als einziger einen Charakter von Shakespearischer Ambivalenz. Exponiert agiert Ester Ferrini als Julias Mutter mit großen Gesten, als ginge es um die Hauptpartie. Die reiferen Autoritäten der Tragödie – Graf Capulet, die Montagues, Fürst Escalus – sind bedeutungslos.

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Szenenbild aus „Romeo und Julia“ an der Oper Leipzig
Szenenbild aus „Romeo und Julia“ an der Oper Leipzig

Elegante Messerstecherei

Dafür verwandeln sich die wohlerzogenen Montague- und Capulet-Knaben beim Zücken eleganter Stichwaffen in knallharte Hyänen. Lovettes brillant realisiertes Tanzspiel über junge und schöne Menschen spielt auf der Hinterbühne und im Zuschauerraum eines Theaters. Thomas Mika ersetzte Verona durch Interieurs in Silber- bis Taubengrau – wie ein ästhetisches Äquivalent und Relikt eines sozialistischen Bau-Klassizismus, aber frei von Hintergedanken zur Biografie Prokofjews. Auf der Hinterbühne mit etwas Werkmaterial und rauer Hintermauer kommt Romeo in eine probende Gruppe. Aus Geplänkel wird Ernst. Schon geht es nach kurzem Warm-Up in die Kampfszenen.

Oscar Ward als Julias Bräutigam Paris wirkt etwas statuarisch. Carl van Godtsenhovens Tybalt agiert mit der gespreizten Attitüde eines pikierten Firmenerben. Die Kostüme dazu sind eine feine Kollektion in Weiß, Erdbeer und Cognac. Das Leipziger Ballett bestätigt seine technisch erstklassige Souveränität.

Szenenbild aus „Romeo und Julia“ an der Oper Leipzig
Szenenbild aus „Romeo und Julia“ an der Oper Leipzig

Perfekte Choreografie der Liebe

Soojeong Choi, der Lorette immer wieder schöne Bewegungsfolgen auch um andere Figuren als Romeo gibt, verkörpert eine durchaus gegenwärtige Julia mit gelebter Selbstbestimmtheit. Am schönsten wird der Abend, wenn sie und Andrea Carino die ganze Bühne des Opernhauses für sich haben. So beim unvermittelt und wie in einer anderen Welt stattfindenden Erstkontakt hinter Masken, in einer sehr unschuldigen Hochzeitsnacht und beim zeitversetzten Doppelselbstmord. Auch da kommt es, aufgeladen durch das ebenbürtig reine Gewandhausorchester, zum Schweben. Der Abend endet als von Shakespeares existenziellen Bewusstseinserosionen befreites Ballett-Glücksstück. Fichets Start feiert romantische Liebe auf Topseller-Niveau.

Oper Leipzig
Lovette/Prokofjew: Romeo und Julia

Anna Skryleva (Leitung), Lauren Lovette (Choreografie), Thomas Mika (Bühne & Kostüme), Michael Röger (Licht), Anna Diepold (Dramaturgie), Soojeong Choi/Yun Kyeong Lee, Andrea Carino/Flavio Salamanka, Marcelino Libao/Daniel Róces Gómez, Landon Harris/Alessandro Repellini, Carl van Godtsenhoven/Marcos Vinicius da Silva, Ester Ferrini/Anna Jo, Madoka Ishikawa/Diana van Godtsenhoven, Oscar Ward, Vincenzo Timpa/Pedro Luz, Leipziger Ballett, Gewandhausorchester






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