Die Kulturwelt ist oft ungerecht in der Bewertung von Remakes oder Langzeit-Konserven alter Inszenierungen. Publikumsrenner wie Otto Schenks „La Bohème“ an der Bayerischen Staatsoper aus den 1970ern, so manche „Hänsel und Gretel“-Inszenierung oder die Stuttgarter Tanzklassiker von John Cranko sind noch immer im Programm, obwohl kaum einer der am Urprodukt Beteiligten mehr zu den Mitwirkenden gehört. Aber das Tanztheater Wuppertal ereilt mit schöner Regelmäßigkeit ein feuilletonistischer Prüfstand, ob die Bewahrung von Produktionen der legendären Tanztheater-Pionierin nur mehr versteinerte Apologie sei. Frage also: Feuer der Tradition – oder deren Asche? Beim Besuch im fast ausverkauften Opernhaus Wuppertal am Sonntagnachmittag in der zigten Wiederaufnahme des 1976 uraufgeführten Tanzabends „Die sieben Todsünden“ ist die Antwort klar und deutlich, auch durch das rundum enthusiasmierte und ziemlich junge Publikum: Die Legende lebt, deren Tradition brennt mit Glanz, Macht und Können.

Genderpluralismus aus dem letzten Jahrhundert
Es war einfach wunderbar. Das dürfte nur denen missfallen, die Genderpluralismus und spartenübergreifende Projekte für Erfindungen der jüngeren Gegenwart halten. Pina, von der in Wuppertal alle ohne Nachnamen sprechen, war bei der Uraufführung von „Die sieben Todsünden“ im Juni 1976 mindestens ebenso weit – quasi zwischen Magnus Hirschfelds drittem Geschlecht und Judith Butlers sexuellen Polyvalenzen. In kaum einem Remake von Opern- und Ballettinszenierungen aus dem 20. Jahrhundert sind so viele Mitwirkende der ersten Generation dabei wie beim noch immer für Gastspiele weltweit gefragten Tanztheater Wuppertal. Das liegt auch daran: Pina war authentisch lange vor den Gegenwartsinitiativen gegen Age Shaming und Age Blaming. Noch immer erkennt man in der Kompanie vertraute Gesichter von Aufführungsfotos aus den 1990ern und Wim Wenders‘ Film-Dokumentation „Pina“ aus dem Jahr 2010. In welchem Tanzensemble gibt es das noch?

Totaltheater mit sinnlichem Funkeln
Unter mindestens drei Aspekten sind „Die sieben Todsünden“ hochklassiges und berückendes Totaltheater. Das auf der Hinterbühne sitzende Sinfonieorchester Wuppertal kennt seinen Weill und die Arrangements aus dem FF. Jan Michael Horstmann hat mit schon telepathischer Energie den synergetischen Puls, wirkt am Pult wie ein Teil der Choreografie. Die lange Neonleiste über dem Tanzboden, das längst vom „Gelsenkirchener Barock“ zum Edel-Vintage gereifte Interieur mit Teppich und ver-„troddelter“ Stehlampe müsste ebenso den Neid heutiger Ausstattungsteams erregen wie die Pastell-Ballkleider und Pelzimitate für Frau und Mann. Die Ausstattung sitzt, der Umgang mit dieser auch.
Noch immer fasziniert die Verblendung von Gästen mit dem Ensemble, also von Steffen Laube als distinguiertem Grapscher und der sich mit Lust als dekadentes Luder in Goldblond produzierenden Melissa Madden Gray. Logisch. Auch die in diese Produktion faszinierend eingeschweißte Ute Lemper, die hier zu ihren Musical-Anfängen zurückfindet: Schon mit Beginn der in Weills Pariser Exil nach der Machtübernahme entstandenen „sieben Todsünden“ – da richtet sie einen Spot auf ihre „Schwester“ Anna II – ist sie ein Blickfänger. Lemper und Stephanie Troyak legen unsichtbare Fäden zwischen sich. Troyak als sich im kapitalistischen Wertschöpfungs- und Verschleißprozess zerstörende Ware Frau und Lemper als deren manipulatives Medium.

Bitternis, Bravour und Brutalität
Ute Lemper ist in diesem Totaltheater-Biotop ganz große Klasse, gerade weil sie hier keine One-Woman-Show betreiben und keine solitäre Diven-Exklusivität vor sich hertragen muss. Mit der Tanzkompanie bildet Lemper je nach Anforderungen eine intensive Einheit oder dramatisch sinnfälligen Konterpart. Brecht und Weill ereignen sich hier statt im Schnodder-Look mit Anzug, weißem Kragen und Abendkleidern, was nach den wilden 1960ern ein skandalisierender Kunstgriff war. Dieser passte faszinierend in Pina Bauschs Geschlechter-, Balz- und erotische Wegwerf-Dialektik in den dann zu Welterfolgen gewordenen Abonnenten-Schrecktiteln „Kontakthof“ und „Café Müller“. Die Alle-Alter-Tanzcrew ist wie damals eine aufeinander eingeschworene Masse kraftvoller Individuen, das Familienquartett Sergio Augusto, Mark Bowman-Hester, Sebastian Campione und Simon Stricker im Fast-Ganzdunkel von vokaler Stärke. Es ist faszinierend, wie Schweres das Leichte penetriert, Lempers scharfe Konsonanten im Gleichklang von Erscheinung und Bewegungen die Bitternis und Brutalität des Geschehens verdichten.

Pinas perfide Dialektik
„Fürchtet euch nicht“ ist keineswegs eine heilsgeschichtliche Trostpostille ins seit der Uraufführung noch untröstlichere Turbokapitalismus-Jammertal. Pinas Benutzungs- und (sehr emanzipierte) Selbstbenutzungsshow geht viel weiter. Tanzdramatische Dialektik also auch da. Die musikalische Seite präsentiert Weills Evergreens mit rauchig bis samten in alle Glieder fahrender Opulenz. „Fürchtet euch nicht“ singt der adrette Schokoladenonkel zu seinen fast kindlichen Partnerinnen, deren Gesichter nach den angedeutet finsteren Kurzbegegnungen versteinern. Dieses „Fürchtet euch nicht“ gilt bei Pina nur für die Blütejahre der ersten Lebenshälfte, welche durch die aus Tradition emanzipierte Besetzungspolitik des Tanztheaters Wuppertal auf die ersten beiden Lebensdrittel verlängert wird. In diesem Sinne gerät die von New York bis Moskau umjubelte Brecht-/Weill-Kompilation zu einem alterslosen Beitrag für hedonistische Emanzipationsutopie. In diesem Sinne sind „Die sieben Todsünden“ sogar im 50. Jahr noch immer dialektischer als so manches eine Spielzeit nicht überdauernde Cancel-Theater mit Haribo-Farben.
Tanztheater Wuppertal
Weill / Bausch: Die sieben Todsünden
Pina Bausch (Choreografie), Jan Michael Horstmann (Leitung), Sinfonieorchester Wuppertal, Edd Arnold, Andrey Berezin, Dean Biosca, Emily Castelli, Maria Giovanna Delle Donne, Taylor Drury, Samuel Famechon, Luciény Kaabral, Reginald Lefebvre, Nicholas Losada, Alexander López Guerra, Eddie Martinez, Blanca Noguerol Ramírez, Franko Schmidt, Julie Anne Stanzak, Michael Strecker, Frank Willens, Pier Paolo Lara, Babacar Mané, Melanie Martinez, Jan Möllmer, Claudia Ortiz Arraiza, Isis Stamatakos, Stephanie Troyak & Sanne Vree (Tanz), Melissa Madden Gray, Steffen Laube, Ute Lemper & Erika Skrotzki (Gesang & Schauspiel), Sergio Augusto, Mark Bowman-Hester, Sebastian Campione & Simon Stricker (Gesang), Maki Hayashida (Klavier), Jan Kazda (Gitarre)
Di., 15. April 2025 19:30 Uhr
Tanztheater
Die sieben Todsünden
Jan Michael Horstmann (Leitung), Pina Bausch (Choreografie)
Mi., 16. April 2025 19:30 Uhr
Tanztheater
Die sieben Todsünden
Jan Michael Horstmann (Leitung), Pina Bausch (Choreografie)
Do., 17. April 2025 19:30 Uhr
Tanztheater
Die sieben Todsünden
Jan Michael Horstmann (Leitung), Pina Bausch (Choreografie)
Sa., 19. April 2025 19:30 Uhr
Tanztheater
Die sieben Todsünden
Jan Michael Horstmann (Leitung), Pina Bausch (Choreografie)
So., 20. April 2025 18:00 Uhr
Tanztheater
Die sieben Todsünden
Jan Michael Horstmann (Leitung), Pina Bausch (Choreografie)